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Zurück am Stammtisch

30.Oktober 2009 | Beiträge – jüdisches berlin | Kultur

Der Jüdische Kulturverein Berlin zelebriert sein 20-jähriges Bestehen und seinen Abschied

»Die Ereignisse 1989/90 waren ein Auslöser, über NS-Verfolgung und Exil, Ideale, Stalinismus und Irrwege, deutsche und DDR-Geschichte und sich selber nachzudenken«. Das klingt spannend. Schade, dass in dem 160-Seiten-Büchlein, das der Jüdische Kulturverein (JKV) zu seinem 20. Jubiläum herausgegeben und Ende September im Centrum Judaicum vorgestellt hat, so wenig davon zu lesen ist. Stattdessen: Namen, Namen, Namen, Lob, Lob, Lob, auch 40 Kochrezepte (»Selmas Möhrentorte«) und 40 Seiten Chronologie (April 1999 – 22 Veranstaltungen, Mai – 22 Veranstaltungen, Juni – 19 und so fort). Im 10. Jahr sind 50 000 Gäste und zum Schluß über 4 000 Veranstaltungen, Treffen und Workshops registriert…

Liest man die ebenfalls abgedruckten Nachrufe für prominente Mitglieder, lässt sich immerhin etwas ahnen von dem Spannungsfeld, in dem sich der Verein bewegt haben mag: Nachfahre einer Rabbinerdynastie… verhaftet als Atomspion… Saalschlachten mit Nazis… Oberstleutnant der NVA… Flucht nach Mexiko… oder Sätze wie »Gefreut hätte sie sich über Lothar Biskys Kranz mit der großen roten PDS-Schleife«.

Doch der Reihe nach. 1986 am Ostberliner Küchentisch initiiert, zunächst als »Wir für Uns«-Gruppe unter dem Gemeindedach firmierend und im Januar 1990 offiziell gegründet, wollte sich der JKV als »unabhängige jüdische Organisation außerhalb der Gemeinde« verstanden wissen, »ein Ort für alle«, so Irene Runge bei der von JKV-Freunden gut besuchten Buchvorstellung, »die jüdischer Herkunft waren und damit nichts anfangen konnten«, die jüdische Feiertage nicht kannten oder sich kaum noch an sie erinnerten. Der Verein sollte Wissen über jüdische Geschichte und Kultur verbreiten, Judentum bewahren und die Interessen von »Bürgern jüdischer Herkunft und ihrer Angehörigen« wahren.

In der »Wende«-Zeit schien dies dringend nötig. Mit dem Ende der DDR waren Leben und Weltanschauung vieler jüdischer Antifaschisten, Sozialisten und Genossen aus den Fugen geraten; hinzu kam Arbeitslosigkeit und die »gewollte Marginalisierung der Eliten der DDR«, wie Runge schreibt, die dazu führte, dass man sich selbst beweisen wollte. Der neue Verein war Auffangbecken, bot Debatte, Rückzugsraum und Selbstvergewisserung, auch gegenüber einer als arrogant und okkupatorisch empfundenen Westgemeinde (und »die starre Feindseligkeit von Heinz Galinski s.A.«). Auch Zuwanderer haben den JKV damals hilfs- und gesprächsbereiter erlebt als die Gemeinde, schreibt Igor Chalmiev, einer der 14 Autoren, die in dem Buch erläutern, wie sie zum JKV kamen und der zur Zuwanderung, was sie unter jüdischer Kulturarbeit verstehen und so weiter. Sie berichten also von Chanukkafeiern in der Kongresshalle am Alex und im Roten Rathaus, von Religionsunterweisungen diverser Couleur, stimmungsvollen Schabbat-Abenden, dem alljährlichen Gedenken am Grab von »Karl und Rosa« und dem 16 Jahre lang erschienenen Vereinsblatt »Jüdische Korrespondenz«, die besonders wichtig wurde für betagte immobile Mitglieder und Ex-Berliner in der Fremde. Doch »wie zahlreich und fleißig das Autorenteam auch war, darunter Journalisten, Schriftsteller und Wissenschaftler«, schreibt JKV-Aktivist Ralf Bachmann rückblickend, »wir blieben Zuarbeiter zu einem Werk, das immer mit ihrem Namen verbunden sein wird«. Gemeint ist Irene Runge (die unter fünf verschiedenen Pseudonymen schrieb). Und was für die Zeitung galt, gilt auch für den Verein – JKV = IR.

Irene Runge, Foto: A Fischer

Irene Runge, Foto: A Fischer

Und so wie sie keine hat, hatte ergo der Verein keine Berührungsängste, in keine Richtung (auch bei der Aufzählung der guten Beziehungen zu DDR-Kadern – Mittag, Schabowski, Markus Wolf… oder Begegnungen mit Agudath-Israel-Vertretern gerinnt niemandem im Publikum das Blut, im Gegenteil, man erfreut sich an den launig vorgetragenen Anekdötchen). Und wenn Bachmann von dem Versuch schreibt, »einen säkulären Tupfer auf die neuere deutsch-jüdische Landkarte zu setzen«, so fügt Runge ehrlich hinzu, dass dies »mit jüdisch-orthodoxer Hilfe, andere gab es für uns nicht«, geschah. Auch Vorbemerkungsschreiber Micha Brumlik, sonst nicht eben als Chabad-Fan verschrien, »verzeiht« dem JKV den (Ab-/Neben-/Um-)Weg zu den Lubawitschern, die die »hartgesottenen Atheisten« für den jüdischen Glauben sensibilisiert hätten. Und bescheinigt dem Verein, dass die Gemeinden bei ihm lernen könnten, »wie Integration tatsächlich funktioniert«. Woran er das festmacht – man weiß es nicht; aber es klingt gut. Igor Chalmiew jedenfalls fragt sich in seinem Beitrag schon noch, »ob die Integration der ›neuen‹ Juden wirklich erfolgt ist« und bedauert, wie wenig erfolgreich die vielen Versuche waren, Alt- und Neuberliner zu verbinden und wie unterschiedlich Mentalität und Kulturtraditionen doch seien. Der Musiker Boris Rosenthal bemerkt, dass sich der Verein vielleicht auch aus Angst vor neuen Ideen keinen Nachwuchs geschaffen habe, aber dass das, was er als Verein getan hat, gut war, denn er habe gehandelt, wo andere nur redeten.

In der Tat. Der JKV/IR hat viel bewegt und war vor allem in den 90ern eine wichtige politische Stimme (selbst wenn er nicht jedes Rad erfunden hat, wie es sich hier fast immer liest). Er hat entscheidend zur Beschleunigung einer Einwanderungsregelung für Juden aus der UdSSR beigetragen, hat Russischsprachigen eine Anlaufstelle und Kulturprogramme geboten und er reagierte (anders als der schwerfällige Gemeindeapparat mit seinen langwierigen Abstimmungsprozeduren) immer schnell und unorthodox. Der JKV/IR agierte, mischte sich ein und protestierte, gegen die Kürzung von Verfolgtenrenten, Straßenumbenennungen, Kopftuchverbote und diverse Einwanderungsstopps.

Bei all seinen Aktivitäten sei der JKV nie gefördert worden, unterstreichen seine Macher. Nicht umsonst dreht sich ein Großteil der aufgeschriebenen Erinnerungen – so die von Andreas Poethke – um finanzielle Nöte, ewiges »Klinkenputzen«, Fallen im Vereinsrecht, Zwangsumzüge, Raumverkleinerungen, Projekt-, Personal-, Sachmittelkürzungen, ABM, ARP, SAM – das erste gesamtdeutsche Bürokraten-Kauderwelsch. Kurz: Geld gab es nur für russischsprachige Projekte, der Antrags- und Verwaltungsaufwand war enorm, der Verein immer klamm und die meiste Arbeit ohnehin durch Ehrenamtliche zu erledigen. Auch die hochkarätigen Referenten konnte man sich nur leisten, weil alle ohne Bezahlung auftraten, von Jürgen Kuczynski bis Shlomo Carlebach.

»Russischsprachige Veranstaltungen haben wir gemacht«, sagt Irene Runge, »solange es notwendig war«, und nach dem 11. September 2001 verschob sich der Fokus ohnehin in eine neue Richtung. »Wir stellten uns ab jetzt konsequent der interkulturellen Begegnung«, schreibt sie. Der JKV/IR suchte Kontakt zu islamischen, palästinensischen und türkischen Vereinen, vernetzte Leute und Gruppen und war Gründungsmitglied des Migrationsrats. Auch Ralf Bachmann resümiert, der Verein habe sich »als Streiter für soziale Gerechtigkeit und politische Klarheit einen Namen gemacht«. Daneben hat er sein normales »Heimweh«-Programm – Antifa- und Kochnachmittage oder eine Exilreihe mit Erinnerungen der JKV-Mitglieder von Rudolf Hirsch bis Günter Nobel – weitergeführt, von Jahr zu Jahr reduzierter.

Inzwischen leben viele von den Mitgliedern der ersten Stunde nicht mehr, die meisten anderen sind zu alt, um noch Veranstaltungen besuchen zu können. Hermann Simon (60), der das Buch mit vorstellte, könnte die Krabbelgruppe im JKV leiten, wäre er Mitglied gewesen, rechnet Runge vor. Aber da »wir alle unsere Pflichten gegenüber der Welt und dem Himmel erfüllt haben«, endet sie, könne der JKV nun abtreten. Ein »Schmoozeday« als Stammtisch für englischsprachige »vor allem Jüdinnen und Juden« soll das Vereinsleben fortsetzen. Alles auf Anfang.            

Judith Kessler

_WIR. Der Jüdische Kulturverein Berlin. Hg. Ralf Bachmann/Irene Runge. Wellhöfer Verlag 2009, 10,-