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Zur Bedeutung des Jiskorgebets
02.November 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Religion
Einst wurde ein Mann wegen Diebstahl vor Gericht geladen. Er hatte keine Chance seiner Verurteilung zu entgehen. Es gab zwei Zeugen, die ihn beim Stehlen beobachtet hatten und niemand wollte seine Verteidigung übernehmen. Aber dann fand er einen Anwalt, der bereit war, ihn für eine beträchtliche Geldsumme zu beraten. So erhielt er den Rat, sich dumm zu stellen. Jedes Mal wenn der Richter ihm eine Frage stellen würde, sollte er eine Pfeife aus seiner Tasche ziehen und pfeifen. Genau das tat der Mann. Der Richter war sicher, dass es sich um einen Verrückten handle und entschied, ihn straffrei ausgehen zu lassen. Nach einiger Zeit kam der Anwalt zu dem Mann, um die ihm zustehende Summe zu fordern, schließlich hatte er ihn tatsächlich vor der Verurteilung gerettet. Doch auf jeden Satz des Anwalts zog der Mann seine Pfeife aus der Tasche und pfiff. Da sagte ihm der Anwalt: »Sie sind sehr dreist, ich gab Ihnen diesen Rat und jetzt wenden Sie ihn gegen mich an«.
Der Rat des Anwalts lässt sich einem Geschenk vergleichen, das der Ewige uns gegeben hat, nämlich die Fähigkeit zu vergessen. Sie hat eine Schutzfunktion, indem die Erinnerung an Nöte und Schmerzen mit der Zeit in uns verblasst. Im Moment der Not oder des Schmerzes leidet der Mensch sehr, doch schon nach ein, zwei Tagen, schon nach kurzer Zeit, fährt er mit seinem gewohnten Lebensrhythmus fort. Der Ewige hat uns Gnade erwiesen, indem er uns die Fähigkeit des Vergessens gegeben hat. Doch wenn der Mensch den Ewigen vergisst, so gebraucht er sie gegen den, der sie geschaffen hat.
Die Tora gebietet uns, uns zu erinnern. Es gibt sechs Erinnerungsgebote – Dinge, die ein Jude immer erinnern muss. Sie stehen in unserem Gebetbuch geschrieben. Auch die Fähigkeit zur Erinnerung ist ein Geschenk des Ewigen. Ein Mensch, der sein Erinnerungsvermögen verliert, büßt erheblich von seinem Menschsein ein. Er erinnert seinen Namen nicht mehr, weiß nicht, wo er wohnt und kennt seine Angehörigen nicht mehr.
Das Jiskorgebet ist ein Gebet zur Seelenerinnerung, dessen Wurzeln historisch weit zurück reichen. Es wird in der Synagoge von denen gesagt, deren Eltern gestorben sind, für Vater oder Mutter. Es lautet: »G’tt gedenke der Seele meines Vaters, meines Lehrers (Name), Sohn des (Name), der in seine Welt eingegangen ist, dafür, dass ich gelobe, Zedaka für ihn zu geben, durch welches Verdienst seine Seele in das Bündel des Lebens eingebunden sein möge«. Die Formulierung »G’tt gedenke der Seele usw.« gab es in den jüdischen Gemeinden hier in Deutschland bereits im 14. Jahrhundert. Im Laufe der Zeit fügte man dem Jiskorgebet verschiedene Gebete zur Erinnerung an die zur Heiligung des G’ttesnamens Getöteten hinzu. Nach der schrecklichen Schoa wurden Gebete zur Erinnerung an die sechs Millionen ermordeten Juden verfasst. Auch gibt es ein Jiskorgebet zur Erinnerung an die bei der Verteidigung des Staates Israel gefallenen Soldaten und andere verschiedene Gedenkgebete. Wir sagen Jiskor viermal im Jahr: an Jom Kippur, an Schmini Azeret, am siebten Tag von Pessach (in der Diaspora am achten Tag) und an Schawuot.
Das Jiskorgebet hat eine besondere Heiligkeit in der Volksfrömmigkeit. Es gibt Juden, die das ganze Jahr über keine Synagoge besuchen, aber zum Jiskorgebet kommen. Hier gedenken sie, dass sie Juden sind. Sie gedenken ihrer Eltern, welche sie mit der Tradition verbinden. Wir glauben, dass unsere Eltern noch leben, dass ihre Seele lebt. Im Moment des Jiskorgebets erinnert sich der Jude seines Judentums und verbindet sich mit seiner Tradition. So ist das Jiskorgebet nicht so sehr ein Gebet, dass der Ewige der Eltern gedenken möge – G’tt braucht nicht daran erinnert zu werden, zu gedenken –, sondern vor allem ein Ausdruck dafür, dass der Jude seiner Eltern gedenkt, indem er den Ewigen bittet, seiner Eltern zu gedenken. Wir erinnern uns selbst daran, unsere Eltern und unsere Geschichte nicht zu vergessen.
Rabbiner Jitshak Ehrenberg
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