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»Winter ade, Hunger tut weh«
29.April 2009 | Beiträge – jüdisches berlin | Gedenken
Ein Gedenkbuch erinnert an die in das Getto Litzmannstadt deportierten Berliner Juden
≫Der Mond bietet ein grauenhaftes Bild. Grosse Lastwagen sind vollgestopft mit Kindern und alteren Personen. Weinende und laut schreiende Menschen laufen um die Autos herum. Mutter und Vater strecken flehend die Arme nach ihren Kindern aus. Die Kinder schreien nach ihren Muttern…≪ ≫Ich muss Michael aufwecken, und versuche, ihn anzuziehen. Aber das Zittern meiner Hande macht es mir unmoglich, auch nur einen einzigen Knopf zu schliessen. Mein Mann nimmt mir die Arbeit ab. Mit eiserner Ruhe macht er die notigen Handgriffe. Er nimmt Michael, der von dem ganzen Vorgang nichts versteht, an die Hand, und folgt den Polizisten zur Tur. Ich will auf mein Kind zusturzen und es in meine Arme reissen, aber Ulli bedeutet mir mit den Augen, dass ich es nicht darf. Mit einer Stimme, die bestimmt ist und keinen Widerspruch duldet, sagt er zu mir ›ch bringe Michael wieder.‹…≪ Diese Beschreibung – in der es darum geht, dass der sechsjahrige Michael dank der guten Beziehungen seines Vaters Julius (Ulli) zur Gettopolizei der Deportation aus Litzmannstadt zur Vergasung nach Kulmhof entgeht – stammt aus einem Bericht seiner Mutter Ruth Tauber, die mit ihrer Familie im Oktober 1941 in das Getto Litzmannstadt deportiert worden war. Wie das Schicksal der Familie weiterverlief, ist in einer eben erschienenen Publikation nachzulesen: 65 Jahre nach der Liquidation des Gettos im August 1944 haben die Stiftung Topographie des Terrors in Berlin, das Staatsarchiv Łodz und das Toleranzinstitut Łodź ein Gedenkbuch vorgelegt, das den uber 4 200 Juden gewidmet ist, die im Herbst 1941 in vier Transporten aus Berlin (wo zu der Zeit noch etwa 70 000 von einst 170 000 Juden lebten) in das Getto Litzmannstadt deportiert wurden. Die meisten von ihnen starben hier oder wurden spater in Kulmhof und Auschwitz vergast. Ingo Loose, Julian Baranowski und eine deutschpolnische Studentengruppe haben zwei Jahre lang in Archiven recherchiert und weltweit Uberlebende und Angehorige befragt. Sie erzahlen die Geschichte der Berliner Transporte und die von 78 Personen aus diesen Transporten und sie haben die Liste der Deportierten uberarbeitet und den Essays auf 120 Seiten nachgestellt. Die Berliner, die uber das Durchgangslager in der Synagoge Levetzowstrase und den Bahnhof Grunewald in das Getto Litzmannstadt gekommen waren, wurden hier wie die 200 000 anderen Juden aus Łodź, Prag oder Wien und 5 000 Roma aus dem Burgenland auf engstem Raum (auf jede Person kamen durchschnittlich drei Quadratmeter) zusammengepfercht, unter katastrophalen Bedingungen ohne Kanalisation und fliesendes Wasser und bei standigem Hunger. Fur die polnischen Juden waren die Neuankommlinge Konkurrenten um die karglichen Brotrationen und die wenigen Arbeitsplatze. Zudem galten sie als arrogant, (zunachst auch) ≫wohlhabend≪ und nicht ≫richtig≪ judisch. Oskar Singer kolportiert in seinem Getto-Tagebuch den Witz, dass der Westjude nur so heise, ≫weil doch seine Judischkeit angeblich nur bis zur Weste reicht.≪ In jedem Fall verfugten die stadtischen Berliner –Arzte, Anwalte, Angestellte – kaum uber geeignete Uberlebensstrategien. Hinzu kam, dass die meisten von ihnen alt waren. Shlomo Frank schreibt in sein Tagebuch: ≫Heute sind 1 000 Juden aus Berlin ins Getto gekommen. Beinahe 90 Prozent von ihnen sind alte Leute, gebuckt, gebrochen, die sich kaum auf den Beinen halten konnen.≪ Tatsachlich war der uberwiegende Teil uber 60 Jahre alt, ein Drittel sogar uber 70, und bislang sind nur 23 Berliner namentlich bekannt, die uberlebt haben (aus den ≫jungeren≪ Prager Transporten sind es dagegen 277 Personen).
Dennoch gab es auch etliche Hochzeiten unter den Berlinern und sogar drei Geburten. Keines der Babys – Gitta, Recha und Tana – hat uberlebt. So wie die meisten anderen verhungerten sie. Noch einmal Ruth Tauber: ≫Wir waren immer hungrig, Tag fur Tag, und Woche um Woche, denn wir hatten niemals eine ausreichende Mahlzeit. Aber keiner von uns beklagte sich. Bei wem auch? Nicht einmal Michael, der nun bereits sieben Jahre alt war. In Berlin, wenn er als kleiner Junge gesungen hatte ›Winter ade, scheiden tut weh‹ hatte ich mir das Lacheln verbeissen mussen, als ich ihn aber eines Tages mitten im Sommer leise vor sich hinsingen horte ›Winter ade, Hunger tut weh‹ kamen mir die Tranen, und wenn ich ihn nach vollendetem Abendessen mit seiner Fingerspitze die Brotkrumen vom Tisch und Fussboden aufpicken sah, blutete mein Herz.≪ Der Hunger war das Schlimmste. Aus Hunger wurden Diebstahle, Morde und Selbstmorde begangen. So berichtet das Buch beispielsweise von Alfred Liebmann, Sohn eines Kreuzberger Rauchwarenhandlers, der zwar als einer der wenigen Berliner Arbeit in der Kurschner-Abteilung fand und so zweieinhalb Jahre dank zusatzlicher taglicher ≫Ressortsuppe≪ uberleben konnte, sich dann aber laut Getto-Chronik am 24. Mai 1944 erhangte. In der Chronik steht auch warum: ≫Liebmann Alfred beging aus Verzweiflung darüber Selbstmord, dass man ihm im Kurschner-Ressort aus angeblich disziplinaren Grunden die Zusatzsuppen entzogen hat.≪ Immer wieder ist zu lesen: ≫Selbstmord. Lota Hirszberg, 56 Jahre alt, eine Vertriebene aus Berlin /ul. Urzędnicza 13/, vergiftete sich mit einer starken Dosis Schlafmittel.≪ – ≫In der Nacht vom 6. auf den 7. d.M. nahm das Ehepaar Landsberger, das aus Berlin angekommen war, in seiner Wohnung in der ul. Ciesielska 18 Veronal ein.≪ – ≫Am 4. Marz nahm sich die 1886 in Brody geborene Sara Tenenbaum /ul. Gnieźnieńska 26/ das Leben, indem sie sich von der Brucke uber der ul. Zgierska in der Nahe der Kirche auf die Fahrbahn sturzte.≪ Und so weiter. Das angemessen zuruckhaltend gestaltete Gedenkbuch mit seinen Lebenslaufen, Geschichten, Namen und Adressen holt die Kinder und die Alten, Frauen und Manner der Berliner Transporte aus dem Vergessen zuruck. Die eindrucksvollen Fotos aus dem Getto-Alltag, die sich heute im Staatsarchiv Łodź befinden, stammen vermutlich von den Gettoinsassen Henryk Ross oder Mendel Grossman.
Judith Kessler
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