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Willkommen zwischen den Stühlen

01.November 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Gesellschaft

Eine internationale wissenschaftliche Tagung diskutiert die Frage jüdischer Identität(en) neu

Jüdisch ist, wer Kind einer jüdischen Mutter ist oder konvertiert. Diese Definition ist glasklar und erlaubt keine Diskussionen. So einfach ist es immer noch für viele Jüdinnen und Juden und auch die meisten jüdischen Gemeinden und Rabbiner schließen sich dieser Sicht an. Aus halachischer Sicht ist das richtig und nicht verhandelbar. Für Kinder jüdischer Väter und für »gemischte« Paare oder Familien stellt sich das jedoch häufig nicht ganz so einfach und vor allem nicht so eindeutig dar.

In Ländern wie den USA wird vor allem in den liberalen Gemeinden ein pragmatischer Umgang mit Kindern jüdischer Väter gepflegt: Wer jüdisch erzogen wurde oder wird, ist auch in der Gemeinde willkommen. In den letzten Jahren beginnt auch in Deutschland zaghaft eine lange nicht für möglich gehaltene Diskussion. Vielleicht hat das mit den Zuwanderern aus der früheren Sowjetunion zu tun, bei denen das Jüdischsein als im Pass eingetragene Nationalität auch über den Vater weitergegeben werden konnte. Möglicherweise war das ein Hinweis darauf, dass es Fälle gibt, bei denen diese einfache und klare Definition an ihre Grenzen stößt. Denn dass es diese Grenzen gibt, ist schon lange klar: Nicht umsonst öffnet Israel, das als jüdisches Land Jüdinnen und Juden Schutz und Heimat geben will, seine Türen für Kinder jüdischer Väter. Noch zu präsent sind die Erfahrung der Schoa und nationalsozialistische Definitionen, die jenseits vom jeweiligen Selbstverständnis und von jüdischen Religionsgesetzen bestimmt haben, wer jüdisch und daher zu verfolgen war. Die israelische Regelung soll verhindern, dass Menschen, die potenziell als jüdisch verfolgt werden, in Israel keinen Schutz finden, weil sie keine halachischen Juden sind. Doch das führte lediglich dazu, dass Kinder jüdischer Väter und nichtjüdischer Mütter zwar die israelische Staatsbürgerschaft erlangen können, aber nicht dazu, dass sie dort als Juden gelten. Sie können in Israel, wo es bislang keine Zivilehe gibt, beispielsweise nicht (jüdisch) heiraten und nicht auf jüdischen Friedhöfen beerdigt werden.

Vielleicht ist es aber auch so, dass in Zeiten schrumpfender Mitgliederzahlen der jüdischen Gemeinden der Umstand, dass etwa die Hälfte der Jüdinnen und Juden in Deutschland in Partnerschaften mit Nichtjuden lebt, als problematisch erkannt wird. Heinrich Olmer, gerade verstorbener Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg, bezog sich in seinem 2010 erschienenen Buch »Wer ist Jude?« auf diese demographische Entwicklung: Er argumentierte, dass es für die Zukunft der jüdischen Gemeinden in Deutschland unabdingbar sei, sich Kindern jüdischer Väter und nichtjüdischer Mütter gegenüber offen zu zeigen und matrilineare und patrilineare Herkunft gleich zu behandeln. Und tatsächlich bietet die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschlands jetzt einen Kurs  für 18-  bis 35-jährige »Vaterjuden« an, der den Übertritt vorbereiten soll und letztlich eine schnellere Konversion bedeutet. Ob die Lernzeit von 18 Monaten und der zu erbringende Nachweis über ein orthodox geführtes Leben ausreichen, um diese Schnellform der Konversion für »Vaterjuden« attraktiv(er) zu machen, wird sich noch zeigen müssen.

Auch die Historikerin und Autorin Diana Pinto denkt über die Zukunft nach, wenngleich weniger in einem demographischen als in einem humanistischen Sinn. In ihrem Artikel über freiwilliges Jüdischsein, der vor wenigen Wochen im Online-Magazin Hagalil erschien, blickt sie auf Gegenwart und die Zukunft des europäischen Judentums und stellt fest, dass das Konzept eines freiwilligen Jüdischseins im Europa nach 1989 eigentlich bereits verwirklicht sei: In einer demokratischen Zivilgesellschaft definierten Juden ihre jüdische Identität selbst – es sei eine Angelegenheit von freier Entscheidung, in die der Staat nicht eingreife. Paradoxerweise, so schreibt sie, sei das Konzept des freiwilligen Jüdischseins besonders für die jüdische Welt ein Problem. Sie bezeichnet die Frage, ob von freiwilligem Jüdischsein gesprochen werden könne, wenn sich jemand jüdisch fühle und jüdisch leben wolle, aber in einer Gemeinde nicht anerkannt werde, weil er nicht halachisch jüdisch sei, als die jüdische Kernfrage des kommenden Jahrhunderts. Mit aller Dringlichkeit betont sie, dass diese Frage beantwortet werden müsse, wolle man sich den Herausforderungen stellen, die es mit sich bringe, in einer offenen und demokratischen Gesellschaft zu leben und gleichzeitig Mitglied einer jüdischen Gemeinde zu sein.

Collage: Judith Kessler

Collage: Judith Kessler

Und auch an anderen Stellen wird deutlich, dass das Thema der Patrilinearität in einem zunehmend offenen, pluralen Europa an Dringlichkeit gewinnt und die Auseinandersetzung mit dem Thema an Fahrt aufnimmt: Seit 2009 besteht die Initiative doppel:halb, die Menschen mit gemischt jüdisch/nichtjüdischem Hintergrund ein Forum für Austausch und Vernetzung bietet und in größeren Abständen in Berlin und Frankfurt Stammtische organisiert. Dabei geht es den Initiatorinnen von doppel:halb nicht darum, für eine größere Offenheit der jüdischen Gemeinden für Patrilineare zu werben. Viel zu unterschiedlich sind die Geschichten der Menschen, die sich dort treffen, viel zu unterschiedlich ist das, was sie sich wünschen. Während einige lediglich Menschen mit ähnlich »buntem« Familienhintergrund finden wollen, wünschen sich andere mehr Kontakt mit jüdischer Kultur und Religion, andere wiederum denken konkret über eine Konversion nach. Gemeinsam haben die meisten, dass sie die häufig ablehnende Haltung jüdischer Institutionen als schwierig empfinden und sich selbst als zwischen den Stühlen sitzend wahrnehmen. Während ihre nichtjüdische Umwelt sie auf Grund ihrer Familien, Namen oder Reisen nach Israel häufig als jüdisch ansieht, werden sie von jüdischen Institutionen wie Nichtjuden behandelt, ein Umstand, den auch besonders viele Zuwanderer beklagen.

Anfang November setzt sich nun am Erziehungswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich die erste große wissenschaftliche Tagung im deutschsprachigen Raum mit dem Thema auseinander. Neben der Präsentation internationaler Forschungsergebnisse ist die Tagung »Gemischte Familien und patrilineare Juden. Hybride Identitäten des Jüdischen« an der Schnittstelle von Wissenschaft und Betroffenen angesiedelt. Das spiegelt sich auch im Organisationsteam wider, das sich aus Akademikern wie dem Schweizer Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Jürgen Oelkers, einer Elterninitiative aus der Schweiz und Mitgliedern von doppel:halb aus Deutschland zusammensetzt. Ihnen allen geht es darum, das Thema sichtbarer zu machen. Sie wollen den Forschungsergebnissen mehr Öffentlichkeit verschaffen und gleichzeitig Wissenschaftler, Betroffene und Interessierte zusammenbringen. »Vielleicht ergeben sich ja neue Gruppen, die sich treffen und austauschen, und vielleicht entstehen Ideen für neue Forschungsarbeiten«, hofft Yael Lichtman, eine junge Politologin aus dem Organisationsteam. Gleichzeitig sieht sie das Thema in einem größeren Kontext: »Sicherlich gibt es Ähnlichkeiten zu anderen bikulturellen oder bireligiösen Paaren und Familien. Vergleiche sind ja immer eine schwierige Sache, aber ich glaube schon, dass in Zeiten zunehmender Mobilität und Globalisierung ‚gemischte‘ Identitäten häufiger werden und man sie als solche akzeptieren muss. Sie lassen sich nicht unbedingt zu einer Seite auflösen.«           

Lea Wohl von Haselberg

_Mehr Informationen zu Ergebnissen der Tagung: www.hybridejuedischeidentitaeten.org