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»Wie hoch kann Deine Sukka sein?«
01.September 2013 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
... fragt Rabbiner Yehuda Teichtal
Wir sitzen sieben Tage lang in der Sukka. Die erste Mischna im Talmud Sukk lehrt uns, dass die Sukka nicht höher als zehn Meter sein darf. Dies ist das erste Gesetz, welches den Studenten des Traktates und der Gesetze der Sukka beigebracht wird.
Woher kommt dieses Gesetz? Ein Grund wird uns von Rabbi Zeira erklärt, der diese Bestimmung dem Vers in Isaja entnimmt, der uns lehrt: »Eine Sukka soll am Tag Schatten vor der Hitze spenden«. Das ist der Hauptzweck der Sukka, dass sie Schatten vor der sengenden Hitze spendet. Wenn nun die Struktur höher als zehn Meter ist, dann sind es die Wände und nicht das »Schach« (das Dach), die die Hauptkomponente der Sukka ausmachen und den Schatten spenden würden. In so einem Fall würde das Schach der Sukka nicht seinen Hauptzweck erfüllen, Schatten auf dem Boden der Sukka zu spenden.
Die offensichtliche Frage: Was ist die Botschaft? Die wichtigste Botschaft der Sukka ist: Glaube! Der »Schatten« schützt uns immer vor der sengenden Sonne. Die Sukka verkörpert dieses Hauptprinzip unseres Lebens. Die Sonne mag erbarmungslos auf uns niederbrennen, das Klima mag unfreundlich sein, aber wir sind in einer Sukka – in G-ttes Welt und in Seiner liebevollen Umarmung. Das Dach der Sukka, das die Aura des G-ttlichen repräsentiert, schenkt uns Schatten und Komfort. Der Kapitän der Welt ist unser Vater, und wir vertrauen unserem Vater.
1993 habe ich Sukkot in Australien verbracht. Dort traf ich Erwin Lamm, der mir folgende Geschichte erzählte. Im Zweiten Weltkrieg war er mit vielen anderen österreichischen Juden nach England geflohen. Während des Krieges fingen die Briten jedoch an, deutsche und österreichische Immigranten als »feindliche Ausländer« zu verhaften und zu deportieren, weil sie Sabotageakte fürchteten. Herr Lamm war einer der 2542 Männer aus Deutschland und Österreich, die auf ein Schiff geladen und nach Australien, der britischen Kolonie, gebracht wurden.
Die Gruppe verließ Liverpool am 10.Juli 1940 an Bord des Militärtransporters Dunera. Die Mannschaft bestand aus britischen Straftätern, die man vorzeitig entlassen hatte, damit sie in der Armee dienten. Nach einigen Tagen wurde diesen Leuten bewusst, dass die Juden ihnen ausgeliefert waren, und sie beschlagnahmten alle Koffer, um diese nach Wertsachen zu durchsuchen. Sie behielten die Wertsachen, den Rest, persönliche Gegenstände, Fotos, Bücher, die Koffer warfen sie ins Meer. Ihr könnt Euch vorstellen, wie verzweifelt die Juden waren, als man ihr ganzes Hab und Gut über Bord warf. Aber ihnen blieb nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen.
Zur gleichen Zeit wurde ein deutsches U-Boot in der Nähe entdeckt. Erst später erfuhren sie, dass das U-Boot zwei Torpedos abgeschossen, aber ihr Schiff nicht getroffen und seltsamerweise abgedreht hatte. Nach 57 Tagen auf See legte die Dunera an der Westküste Australiens an. Herr Lamm begann ein neues Leben...
40 Jahre lang blieb es ein Geheimnis, warum das deutsche U-Boot die Dunera nicht verfolgt hatte, nachdem es zweimal vergeblich versucht hatte, sie zu versenken. Immerhin waren die Nazi-U-Boote dafür bekannt, dass sie ihre Beute erbarmungslos bis zum Ende jagten.
Erst 1980, auf einer Konferenz in Tel Aviv, kam die Wahrheit ans Licht. Es war jemandem gelungen, in den deutschen Militärarchiven das Logbuch des U-Bootes zu finden. Dort stand eine unglaubliche Geschichte: Als sich das U-Boot nämlich der Dunera näherte, beobachtete der Kommandeur durch sein Periskop, dass dort alle paar Minuten etwas über Bord geworfen wurde. Nachdem die Deutschen die Dunera zweimal verpasst hatten, beschlossen sie, das Schiff zunächst vorbeiziehen zu lassen und die im Wasser treibenden Dinge genauer anzusehen. Der Kommandeur schickte einen Teil seiner Männer raus, und die brachten zu seiner Überraschung sechs Koffer mit zurück. In ihnen fand der U-Boot-Kommandeur auf Deutsch geschriebene Briefe (am Anfang des Krieges hatten die ausgewanderten Juden ihren Familien in Deutschland über neutrale Länder Briefe geschickt und sehr darauf geachtet, deutsch zu schreiben und keine jüdischen Ausdrücke zu verwenden, für den Fall, dass die Briefe abgefangen wurden). Daher nahm er an, dass auf der Dunera deutsche Kriegsgefangene seien. Er informierte sofort alle anderen deutschen U-Boote in der Gegend, dass das Schiff nicht angegriffen werden dürfe, weil sich auf ihm deutsche Gefangene befänden. Nach 57 Tagen auf See legte die Dunera sicher in Australien an.
In diesen 40 Jahren haben wahrscheinlich viele der Menschen, die damals an Bord der Dunera waren, an die vielen persönlichen Gegenstände gedacht, die Teil der Familiengeschichte waren und von den kriminellen Matrosen ins Wasser geworfen worden waren. Wer weiß, wie oft sie sich gefragt haben: »Warum mussten wir das Wenige verlieren, was wir noch von zu Hause hatten?« Es brauchte 40 Jahre, bis sie erfuhren, dass dieser Verlust der Schlüssel zu ihrem Überleben war.
Das ist die Botschaft von Sukka. Wir wissen nicht, warum G-tt unterschiedliche Schicksale für unterschiedliche Menschen aussucht. Wir wünschten, dass die Geschichte der Dunera die Geschichte von Millionen anderer Juden hätte sein können. Leider ist dem nicht so. Aber wir wissen, dass in einer »meschuggenen« Welt die Überzeugung, im Schatten G-ttes zu sein, uns die Gelassenheit und den Optimismus gibt, die wir zum Überleben und zum Gedeihen benötigen.
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