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»We‘re ugly but we have the music«

02.Mai 2011 | Beiträge – jüdisches berlin | Ausstellung, Kultur

»Radical Jewish Culture. Musikszene New York seit 1990« im Jüdischen Museum

»Radical Jewish Culture«, RJC, ist das Schlagwort, mit dem der New Yorker Komponist und Saxophonist John Zorn 1992 beim Münchner Musikfestival »Art Projekt« und 1993 in der Knitting Factory in Lower Manhattan jüdische Größen der New Yorker Underground-Musikszene wie Lou Reed und John Lurie einlud, über ihre jüdische Identität und ihre Wurzeln nachzudenken und nach dem jüdischen Anteil an der Entstehung der alternativen Musikszene New Yorks zu fragen. Das Echo war so unerwartet wie fruchtbar und langanhaltend. Viele Künstler trennten öffentliche und private Identität nicht länger und begannen darüber nachzudenken, wie ihre Herkunft ihr Schaffen beeinflusste, selbst wenn sie nicht religiös waren und sich nicht in jüdischen Kontexten bewegten. John  Zorn und der Gitarrist Marc Ribot fragten sich in einem »Manifest«, ob ihre Wut an die der Propheten anknüpfte, ob sich in Schönbergs Zwölftonmusik ein talmudischer Wunsch nach Verschlüsselung ausdrücke oder ob die Erfahrung des Exils oder die Schoa einen Einfluss auf ihre Art zu leben und zu arbeiten habe.

Die Ausstellung »Radical Jewish Culture« im Jüdischen Museum Berlin (eine Übernahme des Musée d‘art et d‘histoire du Judaïsme, Paris) gibt in acht Kapiteln einen Überblick über RJC und seine Vorboten, die Wiederentdeckung des Klezmers in den USA der 1970er und 80er Jahre, die Rolle der Lower East Side, wo jüdische Einwanderer seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ihre Spuren hinterlassen hatten und seit Ende der 1970er Jahre junge jüdische Musiker herzogen, die Jazz mit Klezmer, Experimentalmusik mit Rock, Blues und Punk mixten und die zunehmend auch politisch aktiv wurden. Statt An­passung und gesellschaftliche Unauffälligkeit entstand ein neues Selbstbewusstsein, wurden eigene Festivals und Labels gegründet wie John Zorns »Tzadik«, das bist heute moderne jüdische Musik verlegt.

Der schwarze Jazz-Musiker Don Byron machte mit seinem Mickey-Katz-Projekt 1990 den Klezmer »Downtown-tauglich«. Schräge Klarinette zu noch schrägeren jiddischen Adaptionen wie »Haim afen Range« (»Home on the Range«), »Kiss of Meyer« (»Kiss of Fire«) oder »Peisach in Portugal« (»April in P.«)

Der schwarze Jazz-Musiker Don Byron machte mit seinem Mickey-Katz-Projekt 1990 den Klezmer »Downtown-tauglich«. Schräge Klarinette zu noch schrägeren jiddischen Adaptionen wie »Haim afen Range« (»Home on the Range«), »Kiss of Meyer« (»Kiss of Fire«) oder »Peisach in Portugal« (»April in P.«)

Zorn, die Gallionsfigur der RJC, kommt in der Ausstellung natürlich zu Wort, genauso wie David Krakauer, Marc Ribot, Shelley Hirsch, Anthony Coleman, Frank London und Greg Cohen, der zur Zeit am Jazz-Institut der Berliner UdK lehrt. Musikbeispiele, Konzertmitschnitte, Archivmaterialien der beteiligten Musiker, Notenhefte, Bilder und Bücher sowie Kunstwerke, die Inspirationsquelle für LP-Cover waren, sind ebenso zu sehen bzw. zu hören – wie John Zorns Komposition »Kristallnacht«, die 1992 einer der Höhepunkte in München war, eine verstörende Aufführung, bei der die Zuhörer den Raum nicht verlassen durften; in der Ausstellung kann man sie in Alexander Kluges Videomitschnitt nacherleben.

Zorns Mammutprojekt »Masada« – benannt nach der Festung in der judäischen Wüste und Symbol des jüdischen Widerstands – ist Thema eines weiteren Ausstellungskapitels: Hervorgegangen aus seiner Suche nach der Grammatik einer »neuen jüdischen Musik« hat Zorn zwischen 1993 und 2006 in Anlehnung an die Zahl der Gebote in der Tora 613 Musikstücke nach einer bestimmten Struktur komponiert, die in drei Songbooks zusammengefasst sind.

Zorn scheint seine persönliche Antwort auf die Frage gefunden zu haben, wie und warum jüdische Künstler über 200 Jahre lang kontinuierlich die Kultur New Yorks beeinflusst haben (und dabei oft eine Art Mimikry spielten – wie Bob Dylan, Tony Curtis oder Kirk Douglas, die ihre Namen änderten) und es immer noch tun, zunehmend ihrer selbst gewiss. Heute ist es – zumindest in manchen Kreisen – hip, jüdisch zu sein. Auch in der Populärkultur gibt es den »Diaspora-Schick« (Caspar Battegay), wie Leonard Cohen ihn verkörpert, aber auch Allen Ginsberg – beide Gäste des legendären Chelsea Hotels.

Selbst wenn die RJC nach der Jahrtausendwende an   Kraft verloren hat, bleibt ihr Verdienst, jüdische Identität (wieder-)erweckt und öffentlich gemacht zu haben, künstlerische und intellektuelle Energie freigesetzt und eine Fülle explizit jüdischer, starker, frischer Musik und Kunst provoziert und produziert zu haben.

JUK

 

_ Jüdisches Museum, Lindenstr. 9-14, bis 24. Juli, 4,-/2,-. Konzertprogramm: www.jmberlin.de/radical