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Wenn das ganze Volk zur Tora aufgerufen ist

03.Oktober 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage

Rabbinerin Gesa Ederberg über Bedeutung und Bräuche von Simchat Tora

»Acharon, acharon chawiw«, das Beste kommt zum Schluss, wie der Volksmund sagt. Simchat Tora ist der letzte Feiertag in einer langen Reihe, die mit Rosch Haschana beginnt und über Jom Kippur zu Sukkot führt. Simchat Tora ist ein Feiertag ohne Trauer, ohne Umkehr und Buße. Wir feiern ihn mit Umzügen in der Synagoge, mit Tanz und Unmengen an Süßigkeiten. Selten aber fragen wir uns nach der tieferen Bedeutung dieses Feiertags und seiner besonderen Bräuche.

Simchat Tora ist ein ziemlich neuer Feiertag, der erst in nachbiblischer Zeit entstand. Ursprünglich ist es nur der zweite, der wiederholte Tag des biblischen Schmini Azeret, das direkt auf Sukkot folgt. Diese zweiten Feiertage (»Jom Tow scheni schel galujot«) sind bis heute einer der großen Unterschiede zwischen Diaspora und dem Lande Israel. Damals wurden der Kalender und die genauen Termine der Feiertage in Jerusalem durch Beobachtung des Neumondes festgelegt, und dies wurde dann durch Boten in die Diaspora mitgeteilt. Da die Boten nicht rechtzeitig in Babylon ankamen, feierte man sicherheitshalber außerhalb Israels beide in Frage kommenden Tage.

 

Simchat Tora in BerlinFoto: Judith Kessler

Die Frage, warum aus dem zweiten Tag von Schmini Azeret unser Simchat Tora wurde, während die zweiten Tage von Pessach, Schawuot, Sukkot und Rosch Haschana bis heute als eine genaue Wiederholung der ersten Tage gefeiert werden (der einzige Unterschied ist, dass am achten Tag Pessach und am zweiten Tag Schawuot Jiskor gesagt wird), können wir nicht beantworten. Wir sehen aber, dass Simchat Tora etwas sehr Besonderes ist und sollten uns fragen, was den Rabbinen in Babylon damals so wichtig war, dass sie es einführten.

Die Antwort liegt auf der Hand. Simchat Tora bedeutet »die Freude an der Tora«. Zwar haben alle Feiertage ihre Toralesungen, und es ist jedes Mal der Höhepunkt des Gottesdienstes, wenn die Tora ausgehoben, durch die Synagoge getragen und aus ihr vorgelesen wird. Die Grundstruktur unseres Gottesdienstes folgt jedoch der Struktur und der zeitlichen Ordnung der Opfer im Tempel, und die Toralesung ist eine spätere Hinzufügung.

Simchat Tora aber hat nicht nur eine Toralesung als Teil des Gottesdienstes, sondern die Tora ist sein eigentliches Thema. Während die anderen Feste stets einen landwirtschaftlichen, an die Jahreszeit gebundenen Aspekt mit einem Ereignis aus der Geschichte Israels verbinden, feiert Simchat Tora ohne Bezug auf Land oder Ereignis die zentrale Bedeutung der Tora in der rabbinischen Kultur der Diaspora. Die Gabe der Tora am Berg Sinai, also das tatsächliche Ereignis, wird ja an Schawuot noch einmal extra gefeiert.

Außerdem wurde die Art und Weise der Tora-Feier an den natürlichen Jahreszyklus angepasst: Während im Lande Israel die Tora in ca. dreieinhalb Jahren einmal durchgelesen wurde, las man in Babylon die ganze Tora in einem Jahr. So wird es auch bis heute gehalten. Dieser einjährige Lesezyklus bewirkt nicht nur, dass in jedem einzelnen Gottesdienst mehr Tora gelesen wird, sondern auch, dass die einzelnen Wochenabschnitte einer festen Zeit im Jahreskreis zugeordnet sind, genau wie die Jahreszeiten und Feiertage. Der Anfang und das Ende dieses Lesezyklus wurde auf Simchat Tora gelegt und wir feiern, indem wir das Ende der Tora »wesot hatora« und direkt anschließend den Anfang »bereschit« lesen. Wie der Lauf der Jahreszeiten nie endet, so geht auch die Lesung der Tora stets weiter.

So, wie zu den Pilgerfesten – Pessach, Schawuot und Sukkot – das ganze Volk nach Jerusalem zum Tempel ziehen sollte, so wird an Simchat Tora das ganze Volk zur Tora aufgerufen. Es ist Brauch, dass jeder eine Alija bekommt. So, wie damals am Berge Sinai das ganze Volk die Tora hörte, so wird an Simchat Tora jedes Jahr das ganze Volk mit einem Aufruf geehrt und feiert seine Verbundenheit mit der Tora.  Simchat Tora ist der einzige Tag des Jahres, an dem alle Torarollen aus dem Aron Hakodesch genommen werden, egal, ob man sie für eine Lesung braucht oder nicht. Sie werden mit Tanz und Gesang durch die Synagoge getragen, und jeder soll sie mindestens einen Teil des Weges tragen. Die sieben Hakkafot (Umzüge) entsprechen der Anzahl der Umrundungen des Brautpaars unter der Chuppa. Die Hochzeitssymbolik spielt auch sonst eine Rolle an Simchat Tora: Die Personen, die mit dem Aufruf zur letzten und zur ersten Lesung der Tora geehrt werden, bezeichnet man als Chatan oder Kala, Bräutigam oder Braut der Tora. Und so, wie bei einer Hochzeit schon die Hoffnung auf die nächste Generation ausgedrückt wird, bekommen auch die Kinder zu Simchat Tora eine eigene Alija.