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Weggesperrt

01.Januar 2010 | Beiträge – jüdisches berlin | Gedenken, Menschen

Auch Frauen, unter ihnen viele Jüdinnen, verbrachten Jahre im Gulag

»Die ungeheuerlichen Selektionen der Stalinzeit schienen eine neue Art von Menschen hervorgebracht zu haben: untertänig, unbeweglich, initiativlos, stumm. Gerade deshalb darf der Ruf der wenigen Überlebenden nicht ungehört verhallen, der Ruf derer, die die Ideale einer wahren Menschlichkeit in unsere Zeit trugen – durch die Schrecken einer ungerechten Rechtsprechung, durch Erniedrigung und Qualen, durch Hungersnot und unsägliche Entbehrungen…«, so Vera Schulz in ihren Erinnerungen. Sie ist eine der 19 Frauen in dem Buch »Weggesperrt«, die ihre Lebensgeschichte erzählen. Diese Frauen berichten von einem Leben hinter Gefängnismauern, in Gefangenenlagern und in der Verbannung. Weggesperrt, 10, 15, 20 oder gar 25 Jahre vom Leben ausgeschlossen, getrennt von der Familie, den Liebsten. Sie schreiben über sich, aber mehr noch über die Schicksale ihrer Gefährten, Gefangene in Lagern und Gefängnissen wie sie selbst. Ihr Mitgefühl, ihre Unbeugsamkeit in einem unmenschlichen System, das darauf ausgerichtet war, die Gefangenen zu erniedrigen, zu zerbrechen, zu verhöhnen, und das die Entsolidarisierung der Gesellschaft forcierte, sind Zeugnis für die moralische Stärke dieser Frauen.

In ihren Berichten vermitteln sie dem Leser ein Bild der fast fließbandmäßigen, organisierten Produktion von »Volksfeinden« während der Stalinschen »großen Säuberungen« in den 1930er Jahren, ebenso wie das der Lager, Gefängnisse und der Verbannung. Viele der Aufzeichnungen wurden heimlich, hinter Stacheldraht, begonnen und einige auch dort zu Ende geschrieben, ohne Hoffnung auf baldige Veröffentlichung und den Tod stets vor Augen. Olga Sliosberg kommt in ihren Erinnerungen zu dem Schluss, dass »das Bedeutsamste und Beste in meinem Leben meine Aufzeichnungen waren«. Bis zu ihrer Verhaftung im April 1936 hatte sie das Durchschnittsleben einer parteilosen, gebildeten sowjetischen Frau geführt, aber erst als ihr Leben von einem Tag auf den anderen zerstört wurde, war in ihr der unbändige Wille erwacht, gegen diese Ungerechtigkeit zu kämpfen. 20 Jahre und 41 Tage verbrachte Olga Sliosberg in Gefangenschaft. Ihr erster Mann, Sackheim, Dozent an der Universität, wurde 37-jährig 1936 in den Kellern des Lubjanka-Gefängnisses erschossen, und ihr zweiter Mann Nikolai Adamow, den sie auf Kolyma kennenlernte, starb an den Folgen der Lagerjahre. Die besten Jahre ihres Lebens hatte die Mutter zweier Kinder, die bei Verwandten aufwuchsen, in Gefangenschaft verbringen müssen.

Im April 1936 wird sie mit dem berüchtigten »schwarzen Raben«, dem Polizeiauto für Gefangenentransporte, abgeholt und findet sich in einer überfüllten Zelle in der Lubjanka wieder. Sie ist vollkommen überzeugt, dass alles ein Irrtum ist, will beweisen, dass ihr Mann und sie unschuldig sind. Nach unerträglichem Warten auf ein Untersuchungsverfahren wird sie wegen Nichtanzeige ihres Ehemannes, der trotzkistische Zusammenkünfte organisiert habe (Artikel 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches), als Verbrecherin »entlarvt«. 20 qualvolle Jahre durch Gefängnisse und Lager – Kasan, Solowki, Kolyma, Butyrki-Gefängnis, Karaganda – beginnen.

 

Olga Sliosberg

Olga Sliosberg

Den Winter 1943 beschreibt sie als besonders hart, täglich müssen die Frauen zehn Stunden bei minus 50 Grad im Holzeinschlag arbeiten. Zum Abendbrot gab es dann einen Heringsschwanz »nicht größer als ein Finger«. Unter diesen Bedingungen gingen die Menschen einfach ein, sie »kratzen ab«. Auch Olga Sliosberg, die über die Jahre eine kräftige Arbeiterin gewesen war, wird fast zur »Abkratzerin«, keine der Mitgefangenen will mehr mit ihr zusammenarbeiten, denn die von dem »schurkischen Lagersystem« auferlegte Norm muss erfüllt werden – auf Kosten des Lebens und der Gesundheit der Gefangenen machen die Natschalniks der Lager Karriere, bekamen Orden und Prämien. Aber die Arbeit ist auch das Einzige, was den Frauen geblieben war. Sie hatten keine Bücher, lebten in Dreck und Dunkelheit, ertrugen Erniedrigungen und Gewalttätigkeiten. Und so schreibt Olga, dass »einzig die Arbeit menschlich und rein war, es war Bauernarbeit«.

In ihren Aufzeichnungen nehmen die Schicksale der mit ihr lebenden Frauen einen großen Raum ein. So war die Ärztin Polina Gerzenberg – polnische Jüdin und Mitglied des Sejm – einige Zeit auf Kolyma ihre Pritschennachbarin. Als ihr bei der Entlassung (laut dem russisch-polnischen Vertrag mussten alle Polen, die 1939 auf polnischen Gebiet verhaftet worden waren, freigelassen werden) auferlegt wird, sie solle »keinerlei Verleumdungen über die Sowjetunion verbreiten«, antwortet sie, sie werde »immer und überall die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, die ganze Wahrheit verkünden«.

Auf dem Gefangenentransport 1949 nach Karaganda teilt Sliosberg sich die Schlafstätte mit der Kiewer Studentin Olga, die 1947 zu 20 Jahren verurteilt wurde. Der Staatsanwalt hatte die unmöglichsten Vernehmungsprotokolle fabriziert, ihr sogar eine Verbindung zur Gestapo angedichtet. Beide Frauen schließen Freundschaft, doch diese Freundschaft bereitet Olga Sliosberg »viel Kummer, denn die junge Olga ist Antisemitin«, erzählt unzählige Geschichten »von Juden, die es immer und überall verstehen, sich gut einzurichten«. Olga Sliosberg hätte die für sie peinigenden Gespräche leicht beenden können und nur zu sagen brauchen, dass sie selbst Jüdin sei. Aber sie fürchtete, dass sich »dieses Dummerchen von mir abgewendet hätte, und ohne die Lebensmittel und die Decke, die mir meine jüdischen Verwandten geschickt hatten, erfroren und verhungert wäre«. Und so erduldete sie deren Antisemitismus. Erst in Karaganda offenbart sie sich der Studentin, die ihr »so wehgetan hat«.

Wie fast alle Frauen – soweit sie es noch erlebt haben – wird auch Olga Sliosberg nach dem XX. Parteitag rehabilitiert. In ihrer Rehabilitationsbescheinigung des Obersten Gerichts der UdSSR vom 6. 4. 1956 steht, dass »das Verfahren gegen Adamowa-Sliosberg wegen fehlenden Tatbestandes eines Verbrechens eingestellt wird«.

Ihre und die Aufzeichnungen der anderen Frauen sind eine bedrückende Anklage gegen den Terror unter Stalin und zugleich von zeitloser Gültigkeit und Notwendigkeit. Fast alle Materialien dieses Buches sind das erste Mal veröffentlicht worden, im Verlag Sowjetski pisatel 1989, und nun auch in deutscher Sprache.            

Gabi Banas

_»Weggesperrt. Frauen im Gulag«. Herausgegeben und übersetzt von Nina Kamm. Dietz Verlag 2009, 416 S., 19,90