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»We-Talmud Tora ke-neged kulam«
01.Oktober 2020 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
Gedanken zu Simchat Tora von Gemeinderabbinerin Gesa Ederberg
Wenn wir dieses Jahr zu Simchat Tora kommen, haben wir schon drei große Feiertage unter besonderen Umständen hinter uns. Zu Rosch Haschana wurde das Schofar draußen geblasen, an Jom Kippur gab es in vielen Synagogen zu wenig Platz für alle, und an beiden Tagen mussten die G‘ttesdienste radikal gekürzt werden, um die Gesundheitsgefahr zu verringern und evt. mehrere G‘ttesdienste nacheinander anbieten zu können. Auch Sukkot sieht völlig anders aus als sonst – statt dichtgedrängt in den Sukkot zu sitzen, gibt es Online-Pläne, in denen man eine Zeit reservieren kann, abgepacktes Essen und keine gemeinsamen Kidduschim. Rabbiner*innen, Gemeindevorstände und Freiwillige haben sich wochenlang überlegt, wie sie die G‘ttesdienste gestalten können, was möglich und verantwortbar ist und was nicht, haben Schilder gemalt, Stühle geschoben, Anmeldungen verwaltet…
Und nun Simchat Tora – normalerweise das Ende des Feiertagsmarathons, mit einem nochmaligen Höhepunkt der Freude und Ausgelassenheit, mit Singen, Tanzen, dem einen oder anderen Glas Schnaps. Doch dieses Jahr heißt es im Brief des Zentralrats an die Gemeinden: »An Sichmat Tora sollen die Sifrej Tora nur von je einer Person … getragen werden. Die Tora darf nicht geküsst werden. Ein Weitergeben der Tora von Beter zu Beter muss unterbleiben.«
Und Singen und Tanzen ist sowieo nicht erlaubt – nicht weil irgendwelche Autoritäten uns etwas Böses wünschen, sondern weil der Schutz der Lebens im Judentum über allem steht.
Für die Gestaltung der G‘ttesdienste werden die verschiedenen Synagogen verschiedene Lösungen finden, und vielleicht ist es die Gelegenheit, dieses Jahr besonders darauf zu achten, worauf es wirklich ankommt: Nicht auf die Bonbons, die auch nicht geworfen werden können, sondern auf die Tora, die ununterbrochene Kette jüdischen Lernens.
Simchat Tora heißt, zusammen mit Schmini Azeret und Sukkot »Sman Simchatenu« – die Zeit unserer Freude. Eigentlich war der 9.Tag nach Sukkot anfangs nur der zweite Tag von Schmini Azeret, der in der Diaspora gefeiert wurde. Daraus hat sich dann ein eigenständiger Tag entwickelt, dem gegenüber Schmini Azeret fast untergeht. Wir beenden die Lesung der Fünf Bücher Moses, mit dem Abschnitt »We-sot ha-Beracha« – »Und dies ist der Segen«, mit dem Mosche am Ende seines Lebens die Stämme Israels segnet. Unmittelbar darauf lesen wir in zwei Richtungen weiter: Einerseits lesen wir als Haftara die geschichtliche Fortsetzung, indem wir am Anfang des Buches Joschua lesen, wie die Geschichte des Volkes Israel nach dem Tod von Mosche weitergeht. Da Mosche es gut vorbereitet hat, kommt es zu keiner großen Krise, sondern mit Joschua wird die lange Kette der Nachfolger Mosches eröffnet, die religiös und politisch an der Spitze des Volkes Israel stehen.
Gleichzeitig lesen wir aber auch »weiter«, indem wir von vorne anfangen, das erste Kapitel der Tora, die Schöpfungsgeschichte. Damit machen wir uns bewusst, dass das Lernen nie aufhört, dass die Botschaft der Tora immer wieder neu in unsere Gegenwart hineingesprochen wird.
So, wie zu Pessach, Schawuot und Sukkot das ganze Volk nach Jerusalem zum Tempel ziehen sollte, so wird an Simchat Tora das ganze Volk zur Tora aufgerufen. Es ist Brauch, dass jeder eine Alija bekommt. So, wie damals am Berge Sinai das ganze Volk die Tora hörte, so wird an Simchat Tora jedes Jahr das ganze Volk mit einem Aufruf geehrt und feiert seine Verbundenheit mit der Tora.
Talmud Tora, das Lernen der Tora, ist die jüdische Aktivität schlechthin. Im Morgengebet zählen wir die zentralen Pflichten eines Juden auf und zum Schluss heißt es: »we-Talmud Tora ke-neged kulam« – »das Lernen der Tora wiegt genauso viel, wie all diese zusammen«. Im Talmud diskutieren die Rabbinen, was wichtiger sei, gute Taten oder das Lernen der Tora und entscheiden sich für die Tora, denn sie ist die Grundlage für gute Taten.
Das jüdische Jahr ist einerseits durch die Feiertage, andererseits durch den Rhythmus der Toralesungen geprägt. Immer wieder neu schlagen wir die Tora auf der ersten Seite auf, rollen das Sefer Tora wieder an den Anfang zurück. Ein neuer Start ermöglicht neue Erkenntnisse, die alten Texte werden neu lebendig, wenn wir uns mit ihnen auseinandersetzen.
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