Beitragssuche
Was verbindet Simchat Tora mit Sukkot?
01.Oktober 2009 | Beiträge – jüdisches berlin | Religion
Nachdem wir mit Rosch Haschana das Neue Jahr begonnen haben und mit Jom Kippur den längsten Gottesdienst des Jahres erlebt haben, schließen Sukkot und Schmini Azeret/Simchat Tora diese Reihe von Feiertagen ab – im Französischen werden sie als »Fêtes de Tischri«, die Feste des Monats Tischri zusammengefasst. Und schon im Talmud wird festgestellt, dass der Monat Tischri so viele Feiertage hat, dass zum Ausgleich der nächste Monat, Cheschwan, keine abbekommen hat.
Rosch Haschana und Jom Kippur gehören als »Jamim Noraim« zusammen und werden durch die »Asseret Jemei ha-Teschuwa«, die »Zehn Tage der Umkehr« miteinander verbunden.
Sukkot und Schmini Azeret/Simchat Tora folgen direkt aufeinander. Dabei ist Simchat Tora ursprünglich einfach nur der »Jom Tow scheni schel Galujot«, der nur außerhalb Israels gefeierte zweite Tag von Schmini Azeret. Diese zweiten Tage feiert man vorsichtshalber in der Diaspora, falls man sich im Kalender verrechnet haben könnte.
Die Frage, was Simchat Tora mit Sukkot zu tun hat, liegt nahe und klingt sehr einfach. So einfach, dass man sofort eine Fangfrage vermuten darf, denn in der jüdischen Tradition wird es meist kompliziert, wenn man genauer hinschaut.
Sukkot gehört gemeinsam mit Pessach und Schawuot zu den »Schalosch Regalim«, den drei Wallfahrtsfesten. In der Synagoge wird »Hallel« (Lobpreis) gebetet, die Amida ist fast dieselbe und an allen Feiertagen wird Kiddusch gemacht. Die drei Feste, zu denen in biblischer Zeit das Volk hinauf in den Tempel zu Jerusalem gepilgert ist, verbinden jeweils einen landwirtschaftlichen Ursprung mit der Erinnerung an Ereignisse aus der Geschichte Israels. Pessach ist das Fest der Frühlingsernte und zugleich die Erinnerung an die Befreiung der Kinder Israels aus Ägypten. Auch Schawuot ist ein Erntefest und es erinnert an die Gabe der Tora am Berg Sinai. Sukkot schließlich feiert die Wein- und Getreideernte am Ende des Sommers und erinnert daran, dass das Volk beim Auszug aus Ägypten in Laubhütten übernachtet hat.
Simchat Tora – das Fest der Freude an der Tora – ist neben Purim die ausgelassenste Feier in der Synagoge. Wir lesen den letzten Abschnitt der Tora und fangen sofort wieder mit dem Beginn, dem Schöpfungsbericht an, denn die Beschäftigung mit der Tora, das Lernen der Schrift, hat kein Ende. Hierzu werden alle Torarollen der Synagoge ausgehoben und siebenmal durch die Synagoge getragen. Bei diesen sieben Hakkafot (Umzügen) ist es üblich, dass die Kinder mitlaufen und Süßigkeiten bekommen. Zum Schluß wird mit den Rollen getanzt.
Simchat Tora ist die einzige Gelegenheit, bei der nachts aus der Tora gelesen wird, und es ist das einzige Fest, dessen Lesung nicht auch als regulärer Wochenabschnitt an einem Schabbat stattfindet. Im Morgengottesdienst wird der Beginn des Buches Joschua als Haftara gelesen, und damit wird die Geschichte des Volkes Israel über die Tora hinaus fortgesetzt. Alle Beter und sogar die Kinder werden zur Tora aufgerufen, und den letzten und ersten Abschnitt lesen zu dürfen ist eine große Ehre.
Aus dieser Schilderung der Gebräuche von Simchat Tora wird deutlich, dass es sich inhaltlich völlig von den Schalosch Regalim, den drei Wallfahrtsfesten, unterscheidet, obwohl es auch ein Chag ist, zu dem Hallel, Amida und Kiddusch für Feiertage gehören.
Simchat Tora hat weder einen landwirtschaftlichen Bezug noch erinnert es an ein Ereignis der biblischen Geschichte. Stattdessen feiern wir die zentrale Rolle der Tora im jüdischen Leben. Es hat keinen direkten Bezug mehr zur Realität des Landes Israel, seiner Felder oder des Tempels in Jerusalem. Während Schawuot an den Moment in der Geschichte Israels erinnert, an dem die Tora von Gott gegeben wurde, feiert Simchat Tora mit seinen Lesungen das Lernen der Tora und wird damit zum Fest der nachbiblischen Diaspora, in der sich jüdisches Leben rund um die Tora gestaltet.
Dieser Widerspruch, dass Simchat Tora inhaltlich nichts mit den Wallfahrtsfesten zu tun hat, obwohl es liturgisch doch zu ihnen gehört, erklärt sich mit seiner historischen Entwicklung. Nach den biblischen Texten ist Schmini Azeret einfach der letzte, der achte Tag von Sukkot – »Jom ha-Schmini«, an dem man sich wiederum zu einem Fest – »Azeret« – versammeln soll (so wie auch der letzte Tag von Pessach ein eigenes Fest ist).
Erst im Talmud, im Massechet Sukkot 47b, wird Schmini Azeret als eigenes Fest verstanden. Den Rabbinen war aufgefallen, wie sehr in der Tora (Wajikra 23,36) betont wird, dass der achte Tag extra gefeiert werden soll. (Andererseits ist an einer anderen Talmudstelle, Megilla 31a, weiterhin vom letzten Sukkot-Tag die Rede.) Da die drei Wallfahrtsfeste jeweils auf eine Jahreszeit bezogen sind, wurde auch die These aufgestellt, dass Schmini Azeret ursprünglich das Wallfahrtsfest der vierten Jahreszeit, des Winters, sei, das man mit dem Herbstfest zusammengelegt hatte – da im Winter eine Reise nach Jerusalem ohnehin nicht möglich war.
Wenn Schmini Azeret nun als eigener Feiertag, unabhängig von Sukkot, verstanden wurde, erklärt das auch, dass das Ende von Sukkot einen Tag früher, nämlich zu Hoschana Rabba, gefeiert wird: Hoschana Rabba gilt zwar als »Chol ha-Moed« (Halbfeiertag), aber dennoch werden in den Gottesdienst die zusätzlichen Feiertagspsalmen eingefügt, und auch die Ordnung der Toralesung ist die eines eigenen, regulären Feiertags.
An dieser Stelle wird es liturgisch kompliziert: Wenn Hoschana Rabba der letzte Tag von Sukkot ist, dann muss der darauf folgende Tag der »zweite letzte Tag« sein, der, der nur in der Diaspora gefeiert wird. Dies ist der Tag, an dem Jiskor gesagt wird, und an dem zweifelhaft ist, ob die Mizwot des Feiertages noch gelten – und zufälligerweise ist dieser Tag gleichzeitig der erste Tag des anschließenden Feiertags, Schmini Azeret. Diese Überschneidung wird darin sichtbar, dass man an diesem Tag Jiskor sagt, und dass man zwar den Kiddusch am Abend noch in der Sukka macht, die eigentliche Mahlzeit dann aber im Haus gegessen wird.
Simchat Tora ist ursprünglich einfach nur der außerhalb Israels gefeierte zweite Tag von Schmini Azeret. Erst langsam und stufenweise wird aus diesem zweiten Tag ein Feiertag mit eigenen Elementen: Während im Land Israel die Gemeinden drei Jahre brauchten, um die Tora einmal ganz zu lesen, wurde in Babylon die ganze Tora innerhalb eines Jahres gelesen. Dass das letzte Kapitel der Tora zu Simchat Tora gelesen wurde, ist schon im Talmud, also um 600 u.Z., belegt. Dann erfolgte in gaonäischer Zeit, also im achten Jahrhundert, die zusätzliche Lesung des Anfangs der Tora und im neunten Jahrhundert finden wir im Seder von Raw Amram Gaon die Prophetenlesung aus Joschua. Erst um das Jahr 1000 taucht zum ersten Mal der Name Simchat Tora auf. Und erst im Mittelalter wurden dann die nächtliche Toralesung, die Hakkafot und weitere Bräuche hinzugefügt.
Und irgendwann wurden diese Bräuche dann auch von den Gemeinden im Land Israel übernommen – da sie jedoch keinen eigenen Tag dafür hatten, findet heute in Israel Simchat Tora an Schmini Azeret statt!
Am Beispiel dieser Entwicklung können wir sehen, dass das Judentum sich mit seinem jeweiligen historischen Kontext auseinandergesetzt hat und dass manchmal Dinge, die wir als selbstverständlich voraussetzen, eine lange und komplizierte Geschichte haben. Sich mit diesen Entwicklungen zu beschäftigen, eröffnet uns neue Perspektiven und ein tieferes Verstehen. Auch und gerade wenn wir feiern, ist es gut, wenn wir auch die Hintergründe des Festes verstehen.
In diesem Sinne wünsche ich Chag Sameach, ein schönes und gemütliches Sitzen in der Sukka und fröhliches Feiern mit der Tora!
Rabbinerin Gesa S. Ederberg
jüdisches berlin
2012_24 Alle Ausgaben
- November 2024
- Oktober 2024
- September 2024
- Juni 2024
- Mai 2024
- April 2024
- März 2024
- Februar 2024
- Januar 2024
- Dezember 2023
- November 2023
- Oktober 2023
- September 2023
- Juni 2023
- Mai 2023
- April 2023
- März 2023
- Februar 2023
- Januar 2023
- Dezember 2022
- November 2022
- Oktober 2022
- September 2022
- Juni 2022
- Mai 2022
- April 2022
- März 2022
- Februar 2022
- Dezember 2021
- November 2021
- Oktober 2021
- September 2021
- Juni 2021
- Mai 2021
- April 2021
- Januar 2018
- März 2021
- Februar 2021
- Mai 2020
- Januar 2021
- Dezember 2020
- November 2020
- September 2020
- Oktober 2020
- Juni 2020
- April 2020
- März 2020
- Februar 2020
- Januar 2020
- September 2019
- November 2019
- Juni 2019
- Mai 2019
- April 2019
- März 2019
- Februar 2019
- Dezember 2018
- Januar 2019
- Mai 2015
- November 2018
- Oktober 2018
- September 2018
- Juni 2018
- Mai 2018
- April 2015
- März 2015
- März 2018
- Februar 2017
- Februar 2018
- fileadmin/redaktion/jb197_okt2017.pdf
- September 2017
- Juni 2017
- April 2017
- November 2017
- Januar 2017
- Dezember 2016
- November 2016
- Oktober 2016
- September 2016
- Juni 2016
- Mai 2016
- April 2016
- März 2016
- Februar 2016
- Januar 2016
- Dezember 2017
- Dezember 2015
- November 2015
- September 2015
- Juni 2015
- Oktober 2015
- Februar 2015
- Januar 2015
- Dezember 2014
- November 2014
- Januar 2022
- Oktober 2014
- September 2014
- Juni 2014
- Mai 2014
- März 2014
- Februar 2014
- Januar 2014
- Dezember 2013
- November 2013
- Oktober 2013
- Juni 2013
- Mai 2013
- April 2013
- März 2013
- Februar 2013
- Januar 2013
- Dezember 2012
- November 2012
- Oktober 2012
- September 2012
- Juni 2012
- Mai 2012
- April 2012
- März 2012
- Februar 2012
- Januar 2012