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Was braucht man für einen Staat?

05.Januar 2009 | Beiträge – jüdisches berlin | Jugend

Mit Neuköllner Schülern bei einem interreligiösen »Miphgasch«-Projekt

Es ist ein Dienstag Anfang Dezember, kurz nach neun. Ich sitze bei »Miphgasch/Begegnung e.V.«, einem Verein, der interreligiöse und -kulturelle Projekte hauptsächlich für »bildungsbenachteiligte« Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund veranstaltet.
Seine ursprüngliche Idee, die Themen Nationalsozialismus und Holocaust mit Hilfe von Zeitzeugen zu vermitteln und deutsch-israelische Treffen zu organisieren, hat der Verein in den letzten Jahren zunehmend um einen neuen Aspekt erweitert: ein von Verständnis und Respekt geprägtes Miteinander zu wecken. Das nötige Wissen über die »Anderen« soll mit Themen wie »Jüdische Kultur in der Weimarer Republik«, »Juden in der arabischen Welt« oder »Nathan der Weise«, einem Projekt zum Religionenvergleich, erworben werden. Der Grundgedanke ist, dass Antisemitismus, Antizionismus oder anderen Ressentiments gegenüber Fremden nur mit gegenseitiger Offenheit und Aufklärung entgegen gewirkt werden kann.
Doch wie wird ausgewählt, wer am Programm teilnimmt, frage ich Daniel Kauffmann, einen der Projektleiter. »Wir treten an Schulen heran, bisher hauptsächlich in Wedding, Neukölln, Moabit und Kreuzberg, teilweise melden sich die Schulen selbst«, sagt der Geschichtsstudent, und »manche Lehrer trauen sich auch allein solche Themen nicht zu«.
Heute hat die Klasse 8/4 der Neuköllner Thomas-Morus-Oberschule ihren Projekttag zum Thema Nahostkonflikt. Und ich bin als Gast dabei. Die 8/4 war bereits im letzten Jahr zum »Nathan«-Projekt hier und hat anhand der Ringparabel Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei großen Weltreligionen herausgearbeitet, wie der Israeli Guy Band, ein anderer »Miphgaschnik« und Student am Touro College, erzählt.
Dann stürmen 17 Teenager – unter anderem mit serbischen, libanesischen und türkischen Wurzeln – in den Raum. Die Stimmung ist aufgeregt und ein bißchen gespannt. Ob sich die Klasse damit anfreunden kann, eine Fremde dabei zu haben, die auch noch über sie schreiben will? Ich werde mich leise verdrücken, sollten die Schüler etwas gegen meine Anwesenheit haben, spreche ich mit Franziska Ehricht, der zweiten Projektleiterin, ab.
Wir beginnen mit einer Vorstellungsrunde. Jeder hat ein Blatt mit einem leeren Halbkörperprofil vor sich, in das er eintragen soll, was ihn als Person ausmacht. Vom Chatten, PC-Spielen und Fußball bei den Jungs über Telefonieren, Tanzen, Shoppen und Telenovelas bei den Mädchen bis hin zu bisherigen Lebenserfahrungen und dem Lieblingsessen öffnen sich die Schüler erstaunlich schnell. Die Klasse begegnet auch mir (für mich unerwartet) offen und interessiert. »Nun muss noch Frau Nadine sagen, was sie so gern macht«, wird prompt verlangt, worauf ich mich zur Freude der Mädchen ebenfalls als gelegentliche Telenovela-Zuschauerin oute.
Nachdem das »Eis gebrochen« ist, erzählen die Schüler, was sie an den bisherigen Projekttagen erlebt haben, als sie eine Kirche, eine Moschee und die Synagoge Rykestraße besuchten. Viele der Kinder waren schon einmal in einer Moschee, aber nur wenige in einer Kirche oder Synagoge. Ich bin erstaunt, wie begeistert und immer noch neugierig die Jugendlichen über das Erlebte berichten. Stolz erklären sie uns, warum die Synagoge Rykestraße in der NS-Zeit nicht zerstört wurde, wie viele Plätze sie hat, wer wo sitzt, oder dass man in einer Kirche leise sein muss und was der Imam zur Homosexualität sagt. »Bei einigen Schülern hat der Besuch einen bleibenden positiven Eindruck hinterlassen«, sagt auch Noach Klockow, Beter in der Rykestraße und selbst 34 Jahre lang Lehrer. Er hat die Klasse geführt und meint: »Jetzt reden sie nicht mehr nur theoretisch von einer Synagoge, sondern können auch etwas Konkretes damit verbinden«. Die Kinder würden merken, dass hinter Juden, Moslems oder Christen ganz normale Menschen stecken, mit denen man sich normal über Religion oder »Gott und die Welt« unterhalten kann. Einer Schülerin sei eine besondere Ehre zuteil geworden, erzählt Klockow. Nachdem sie ihn gefragt hatte, was in dem Schrank »da hinten« sei, durfte sie mit ihm auf die Bima und die Torarolle berühren. Als ich sie darauf anspreche, leuchten ihre Augen immer noch.

Die Klasse 8/4 bei »Miphgasch« Foto: Nadine Bose

Die Klasse 8/4 bei »Miphgasch« Foto: Nadine Bose

Nach dem Rückblick beginnt Daniel mit den Schülern an einem Zeitstrahl zum Nahost-Konflikt zu arbeiten. Begriffe, Bilder und Karten sollen passenden Zeiträumen von 1890 bis 2010 zugeordnet werden. Mit großem Einsatz und scheinbar unvoreingenommen verfrachten die Schüler – teils wissend, teils ratend – die Karten an den Zeitstrahl. Nach und nach werden die einzelnen Jahre, Ereignisse und Schlagwörter (von »UN-Teilungsplan« bis »Jom-Kippur-Krieg«) besprochen und überlegt: »Was braucht man für einen Staat?« und »Was ist der Unterschied zwischen Staat und Land«, nachdem ein Junge gefragt hatte, wo er (als staatenloser Palästinenser) denn herkäme, wenn es gar keinen Staat Palästina gibt.
Viel weiter kommen wir nicht, die Zeit ist um. An den nächsten Projekttagen soll es dann um die andere Hälfte des Zeitstrahls gehen – Zukunftsorientiertheit ist eines der Ziele von »Miphgasch«, der u.a. von der Jugend- und Familienstiftung und vom Integrationsbeauftragten des Senats gefördert wird.
»Wir sind kein Allheilmittel«, resümiert Daniel Kauffmann, »aber wir bieten Grundlagen, auf denen der Unterricht aufbauen kann«. Und »die Schüler brauchen Vertrauen und wollen ernst genommen werden«, ergänzt Guy Band. »Antisemitismus ist nicht nur eine Folge von Unwissenheit, sondern auch von gesellschaftlicher Unzufriedenheit und Benachteiligung. Dort müssen wir ansetzen, um die Probleme zu lösen.«       

Nadine Bose