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Von Steglitz nach Mergellina

01.Juni 2011 | Beiträge – jüdisches berlin | Menschen, Orte

Die Jüdische Gemeinde von Neapel hat auch etwas mit Berlin zu tun…

Die Anfänge der jüdischen Gemeinde Neapels gehen bis zu den Römern auf das erste Jahrhundert vor unserer Zeit zurück. Doch nach der Ausweisung aller Juden aus dem (spanisch beherrschten) Königreich Neapel 1541 durften sich Juden erst 1735 wieder hier ansiedeln. 1827 kam Carl Meyer Rothschild aus Frankfurt nach Neapel, gründete die erste Filiale der Rothschild-Bank (heute Villa Pignatelli) in Italien und »sponserte« großzügig die Bourbonen sowie die Rückkehr König Ferdinands auf den Thron. Nach der Einigung Italiens holte Adolf Carl Rothschild jüdische Familien aus Rom und Livorno nach Neapel, auch etliche Aschkenasim, wie die Namen an den Gedenktafeln der Gemeinde bis heute verraten: Marcus, Oppenheim, Heinemann, Weil, Braun… Mit Hilfe der Rothschilds gründeten sie eine Gemeinde, errichteten ein kleines »Israelitisches Hospital« und zogen 1864 in die Via Cappella Vecchia 31, die bis heute neben Bibliothek und Archiv auch die Synagoge beherbergt (vorher sei hier das Quartier von Lord Nelson und Lady Hamilton gewesen, wie Gemeindemitglieder augenzwinkernd berichten). Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es etwa tausend Juden in Neapel, viele waren aus Thessaloniki oder dem Osmanischen Reich gekommen, Geschäftsleute, Künstler, Mäzene… In der NS-Zeit konnte ein Teil der Gemeindemitglieder fliehen oder untertauchen (»nur« 14 wurden deportiert, weil der Präfekt von Neapel, Marzano, sich weigerte, den Deutschen die Gemeindelisten auszuhändigen), und bei der Ankunft der Alliierten 1943 waren noch 534 Juden in der Stadt.

Eine von ihnen ist die 19-jährige Luciana Gallichi. Sie verliebt sich in einen Soldaten der jüdischen Brigade, der mit der britischen Armee nach Italien gekommen ist. Lange Spaziergänge an der Strandpromenade von Mergellina, Vesuv und Capri vor Augen, viele Briefe – alles in Englisch. Denn der junge Verehrer kann nicht Italienisch. Er ist aus Berlin: Heinz Rebhun und sein Zwillingsbruder Kurt aus Steglitz, Poschinger Straße 14, die immer alles zusammen machten, hatten eine Hachschara in Brandenburg besucht und waren 1936 nach Palästina emigriert.

Es wird eine bescheidene Chuppa. Heinz und Kurt müssen wieder zu ihrer Truppe. Engbeschriebene Briefe gehen hin und her. Im Mai 1946 erblickt Lucianas und Heinz‘ Töchterchen Miriam in Neapel das Licht der Welt. Auch Bruder Kurt findet sein Glück, in einem Kibbuz bei Haifa. Luciana und Heinz beschließen ihr weiteres Leben mit der kleinen Miriam ebenfalls dort zu verbringen.

Im Frühjahr 1948 wird Heinz bei einem arabischen Überfall auf einen Bus bei Haifa erschossen. Kurt kann noch für die Rückfahrt der am Boden zerstörten Luciana und ihres Babys nach Neapel sorgen. Im Herbst fällt auch er im Unabhängigkeitskrieg.

Miriam Rebhun Gaudino und Pierluigi Campagnano, Präsident der Comunità Ebraica di Napoli, Foto: Judith KesslerDie Synagoge von Neapel,  Foto: Judith KesslerDie Synagoge von Neapel,  Foto: Judith Kessler

Luciana wird nie wieder heiraten. Noch Jahrzehnte später wird sie nur weinen können, wenn die Sprache auf die Liebe ihres Lebens kommt. Miriam Rebhun wächst in der Jüdischen Gemeinde von Neapel mit den wenigen Fotos ihres Vaters auf, die ihn meist zusammen mit seinem zum Verwechseln ähnlichen Bruder zeigen. Mehr hat sie und weiß sie über ihre Familie nicht… Ein halbes Jahrhundert später macht sich Miriam auf, den Spuren ihres Vaters zu folgen. Was sie in mehreren Jahren der Recherche erfährt, ist traurig. Ihr Großvater Leopold, der als Vertreter für die jüdische »Schürzenfabrik Aron Meyer« arbeitete, starb bereits 1940 in den Wittenauer Heilstätten, möglicherweise im Rahmen einer frühen Euthanasieaktion; seine Schwester Paula wurde in Riga ermordet. Miriams Großmutter Frieda, die man zur Zwangsarbeit bei »Konsulent Bernhard Israel Blau« (also einem jüdischen Anwalt, dem die Zulassung entzogen worden war) in Charlottenburg verpflichtet hatte, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und starb in Raasiku.

Die Enkelin lässt einen Stolperstein in der Poschinger Straße in Steglitz setzen, wo ihre Großeltern 25 Jahre lang lebten und wo ihr Vater geboren wurde, aufwuchs, zum Gymnasium ging. Sie sucht und findet das Geburtshaus ihrer Oma Frieda im mecklenburgischen Parchim, wo deren Familie – die Familie Josephy – vor dem Krieg weitverzweigt und anerkannt war und das Gebäude der »Heilstätten« (heute Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik), in dem ihr Opa kurz nach seiner Einlieferung starb. Sie lässt die Schrift auf seinem Grab in Weißensee erneuern und weiß nun auch, dass seine Eltern Mendel Rebhun und Johanna Treuherz, die noch im heutigen Polen geboren wurden, ebenfalls dort beerdigt sind.

Miriam Rebhuns Mutter Luciana stirbt Ende 2010. Ihre Tochter hat ihr und ihrer Berliner Familie mit einem Buch, das dieser Tage in einem kleinen Verlag in Neapel erscheint, ein Denkmal gesetzt. Sie selbst erinnert sich bald jeden Tag an sie; die Jüdische Gemeinde von Neapel spielt dabei eine große Rolle. Für Miriam, die sich ganz ohne Ironie nennen kann, wie sich die sefardischen Juden Italiens gern selbst bezeichen, nämlich als »Aschkenasim des Süden«, ist die Gemeinde, heute die einzige in Süditalien, ein wesentlicher Teil ihres Lebens. Ihre Gemeinde ist klein – kaum 180 Mitglieder, 70 Prozent im Rentenalter, die letzte Chuppa 20 Jahre her. Freitagabends bekommt man keinen Minjan zusammen und sogar Chabad sei wieder verschwunden, sagt Davide Tagliacozzo, der junge Gemeindesekretär, auch er werde wahrscheinlich eines Tages in den Norden gehen. Bis es soweit ist, fühlt er sich jedoch genau wie sein Vater Luciano, der hier Hebräisch unterrichtet, und Pierluigi Campagnano, der Präsident der Gemeinde, und wie Miriam, die Halbberlinerin, als Teil einer Familie. Hier hat ihre Mutter geheiratet, hier hat Miriam mit dem Präsidenten im Buddelkasten gesessen und in den 1950er die kleine jüdische Schule, die es damals noch gab, besucht. Bis heute kommen alle hier regelmäßig zusammen, am Jom Kippur, zu Purim und Pessach – dieses Jahr saßen 70 Gäste am Sedertisch, ein neuer historischer Höchststand, Hoffnung für die Gemeinde. Und auch Besucher sind herzlich willkommen, um die beiden alten Friedhöfe zu besichtigen oder am Schabbatgottesdienst teilzunehmen.

Judith Kessler

_Comunità Ebraica di Napoli, Via Cappelle Vecchia 31, 80121 Napoli, Telefon +39-0817643480, napoliebraica@gmail.com, www.napoliebraica.it