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Von »Mosaisten« und Einländern
01.April 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Gesellschaft
»Vom Schutzjuden Levin zum Staatsbürger Lesser« erzählt die deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte seit dem Emanzipationsedikt von 1812 am Beispiel einer Familie
Es ist ein Glücksfall, dass die Historikerinnen Irene Diekmann und Bettina Götze mit den Lessers eine Familie gefunden haben, deren deutsch-jüdisch-(brandenburgisch-europäische) Geschichte, besser gesagt: die ihrer männlichen Mitglieder, so gut dokumentiert ist, dass sie fast 300 Jahre lang beinahe lückenlos zurückverfolgt werden kann. Die Lebenswege einiger Protagonisten dieser Mittelstandsfamilie dienen den Autorinnen in ihrem eben erschienenen Buch als roter Faden, Exempel und plastischer Zugang, um die Auswirkungen des Emanzipationsedikts von 1812 für die Juden in Preußen und die deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte mit all ihren Höhen und Tiefen nachzuerzählen.
Doch von Anfang an: 1691 erhalten die Brüder Isaac, Jacob und Marcus David Schutzbriefe des Brandenburgischen Kurfürsten und dürfen sich in Rathenow in der Mark niederlassen. 100 Jahre, drei Könige und diverse restriktive Judenregelements später leben 57 Juden in Rathenow. 1797, nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelm III., kommt allmählich wieder Bewegung in die festgefahrenen Reformpläne zur »bürgerlichen Verbesserung der Juden«, wie sie Christian Wilhelm Dohm gefordert hatte. Doch erst am 12. März 1812, vor genau 200 Jahren, ist es soweit. Der König unterzeichnet (nachdem er mehrere vorgesehene Paragrafen wieder gestrichen hatte, unter anderem den Vorschlag, Juden in Zukunft »Mosaisten« zu nennen) das »Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate«. Damit sind »die in unsern Staaten jetzt wohnhaften, mit General-Privilegien, Naturalisations-Patenten, Schutzbriefen und Konzessionen versehenen Juden und deren Familien […] für Einländer und Preußische Staatsbürger zu achten.« Neun Monate später erhält so der Schutzjude Jacob Levin (1762–1819), der Urenkel von Jacob David aus Rathenow, seinen Staatsbürgerbrief und wird zu Jacob Lesser. Denn einer der 39 Paragrafen des neuen Edikts verlangt auch, einen festen Familiennamen anzunehmen, »in den Städten und auf dem platten Lande«. Seiner Unterzeichnung, die Staatskanzler von Hardenberg zuletzt maßgeblich forciert hatte, waren eine jahrelange Diskussion (siehe jb 3/12) und die weiteren allgemeinen Modernisierungsgesetze wie die Städte- und Agrarreform vorangegangen. Die weitgehende Gleichstellung der Juden löste euphorische Reaktionen bei den Juden aus und überschwängliche Dankschreiben. Für heutige Leser befremdlich ist der servile, unterwürfige Ton, in dem all diese Briefe und Gesuche (mit denen das Buch über die erhalten gebliebenen Schutzbriefe, Pässe und Porträts der Lesser-Familie hinaus, reichlich illustriert ist) geschrieben sind, Gesuche um Niederlassung, um Hauskauf, um Ausübung von Berufen. Der Duktus lässt erahnen, unter welchem dauernden Anpassungsdruck die Juden in Preußen standen. Auch das Edikt wurde in einzelnen Punkten in der Folge wieder eingeschränkt oder uminterpretiert. So durften Juden bestimmte Berufe und Staatsämter sowie leitende Funktionen im Militär nicht ausüben. Doch das Militär hat auch in jüdischen Familien hohes Prestige – beinahe alle männlichen Nachkommen Jacob Lessers verrichten Militärdienst (und schreiben patriotische Gedichte). Jacobs Sohn Ludwig Lesser (geboren 1802 noch als Levin Jacob) geht nach Berlin, lernt und arbeitet im Bankhaus M. Oppenheim und nimmt aktiv am kulturellen Leben teil. Ludwig liebt Berlin, in einer von ihm verfassten 50-strophigen Lobeshymne heißt es: »Mag schön Neapel prangen, Stets ziehet mein Verlangen, Und wär ich noch so fern, Mich her nach Preußens Stern…« usw.). Er schreibt viel, unter anderem unter den Pseudonymen Liber und Petrarca, tritt der »Sonntagsgesellschaft« (kurz: dem »Tunnel«) und der wohltätigen »Gesellschaft der Freunde« bei, deren Mitgliederliste einem »Who is Who« der geistigen und wirtschaftlichen Elite Berlins gleicht. Mit seiner Vereinsmeierei, seinem Hang zur Geselligkeit und seinem sozialen Engagement ist er ein typisches Kind seiner Zeit und des aufstrebenden jüdischen Bürgertums, das seinen sozialen Schwerpunkt von der Synagoge in die Klubs und Vereine zu verlegen beginnt und nach Integration in die bürgerliche Gesellschaft der Hauptstadt strebt. Lesser gehört 1845 zu den Gründungsmitgliedern der »Genossenschaft für die Reform des Judenthums«. Hier geht es um die Ausräumung der weiter bestehenden Ungleichheiten zu christlichen Staatsbürgern und um die Modernisierung des jüdischen Gottesdienstes. »Die erstarrte Lehre und unser Leben sind für immer auseinandergewichen« heißt es in einem Aufruf und dass man eine »positive Religion« wolle. Die »Jüdische Reformgemeinde zu Berlin«, in deren Vorstand Lesser nun sitzt, errichtet ihre Synagoge in der Johannisstraße, der Gottesdienst erfolgt überwiegend auf Deutsch, Männer und Frauen sitzen im selben Raum. Ludwig Lesser stirbt 1867 und wird auf dem Friedhof Schönhauser Allee beigesetzt. Zwei Jahre später werden Juden mit dem »Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen…« rechtlich völlig gleichgestellt.
Doch bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts war klar geworden, dass Handwerk und Landwirtschaft aufgrund der zunehmenden Industrialisierung keine Perspektiven boten. Viele Juden sehen sich nun wieder zurück in den Handel gedrängt, den sie ja eigentlich verlassen sollen. In der Allgemeinen Zeitung des Judenthums heißt es 1853 beschwörend: »Nur keine gelehrte Erziehung! … Alle möglichen praktischen Berufe, aber keine anderen.« Vielleicht hat das auch für Ludwigs Sohn Richard (1839–1914) eine Rolle gespielt. Er besucht wie etwa die Hälfte aller jüdischen Kinder zu dieser Zeit eine nichtjüdische Schule, er wird Buchhändler, arbeitet in verschiedenen Städten, redigiert die »Deutsche Kolonialzeitung« und gibt ein Ratgeberblatt für Auswanderer heraus, bevor er sich auf Dauer wieder in Berlin niederlässt. Im späteren Alter gibt er seinen Beruf auf und eröffnet eine Gärtnerei. Richard ist Freimaurer, weltoffen, liberal, patriotisch und Kosmopolit. 1884, mit 45 Jahren, tritt er zum Protestantismus über – wohl mehr, weil für ihn wie viele andere das Christentum eine kulturelle Größe ist und »den Charakter der heutigen internationalen Zivilisation ausdrückt«, als aus religiösen oder pragmatischen Überlegungen. In einem Brief an seine Mutter ist aber auch die Rede von Fanatikern, die den »im Löschen begriffenen Judenhass« wieder zu »lodernden Flammen entfachen«. Wir erinnern uns: 1879 hat Heinrich von Treitschke den Berliner Antisemitismusstreit vom Zaun gebrochen. In der Realität waren all die formalen und verbrieften Rechte der Juden eben nicht durchgesetzt.
Mit Richard wird auch sein Sohn Ludwig (1869–1958) getauft. Der wird Gärtner, dann Gartenarchitekt, der für die verhärmte Berliner Stadtbevölkerung Volksparks und Kleingärtenkolonien konzipiert. Später wird Lesser gar Präsident der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft. Höher kann man im Deutschen Reich kaum steigen…
1933 verliert der »Volljude« Lesser mit einem Schlag alle Posten, Würden und Aufträge; er wird sein Haus verkaufen, um zu überleben, dann wird er »Israel« heißen müssen und mit 70 Jahren Deutschland für immer verlassen. 1942 wird Ludwig Lesser in absentia die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt – 130 Jahre, nachdem sein Vorfahr »Einländer« wurde.
Judith Kessler
_Irene A. Diekmann/Bettina L. Götze: »Vom Schutzjuden Levin zum Staatsbürger Lesser: Das preußische Emanzipationsedikt von 1812« Verlag für Berlin-Brandenburg 2012, 168 S., 150 Abb., 19,95
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