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Von Berlinern, die Krieg und Schoa überlebt haben
01.Juni 2013 | Beiträge – jüdisches berlin | Menschen
Die Geschichte von Jakov Reznik
Jakov Reznik wurde am 12. Juli 1925 in Schepetowka, Region Chmelnitskaja in der Ukraine geboren. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war er 16 Jahre alt und hatte gerade die achte Klasse der Mittelschule abgeschlossen. Anfang Juli 1941 floh Jakovs Familie aus seiner Heimatstadt, der sich bereits die deutschen Truppen näherten. Zuerst fuhren sie nach Schitomir zum Bruder seines Vaters, doch schon eine Woche später wurde die Stadt bombardiert. In die Evakuierung gingen dann alle zusammen – die Familie von Jakov und die seines Onkels. In Güterzügen, die unter Beschuss standen, fuhren sie lange bis nach Baschkirien.
Auf einem der Bahnhöfe stieg Jascha nur mit einem Unterhemd bekleidet mit einem Eimer in der Hand aus dem Zug, um Wasser für die Familie zu holen, und wurde schaffte es nicht rechtzeitig zurück. Der Zug war fort, und er wusste nicht genau, wohin sie überhaupt fuhren. Der Junge behielt die Nerven, fand das Amt, das die Transporte verwaltete, und erfuhr die Nummer des Zuges – № 242. Hilfsbereite Menschen verpflegten den Jungen in der Bahnhofsgaststätte und sagten ihm, dass der Zug in den Ural fuhr.
Nachts, während die Dampflokomotiven ausgetauscht wurden, stieg Jascha in einen Personenzug, der in die gleiche Richtung fuhr. Er hatte Glück: Der Schaffner, der die Fahrkarten kontrollierte, hatte Mitleid mit ihm und warf ihn nicht aus dem Zug. Am Morgen kam er in Tscheljabinsk an. Jascha fand die Abteilung Warentransport und erfuhr dort zu seiner großen Freude, dass der Zug 242 gerade an der gleichen Station angekommen war. Jascha rannte zum Güterzug und sah seinen Vater! Es war ein Wunder! Die Familie stieg gerade aus dem Zug und hatte vor, nach ihm zu suchen. Ihr Glück war grenzenlos – sie waren wieder vereint!
In Baschkirien angekommen, wurde ihnen im Evakuierungszentrum angeboten, in eine Kolchose zu gehen, da auf dem Land die Ernährungslage besser sei. Sie kamen in ein Dorf in der Nähe von Ufa, wo nur Kinder, Frauen und alte Menschen lebten. Alle Männer waren bereits an der Front.
Familie Reznik wurde zunächst im Gemeinschaftszimmer untergebracht, provisorische Pritschen wurden mit Stroh bedeckt. In diesem Dorf lebten Baschkiren und Tataren, niemand sprach Russisch, die Verständigungsschwierigkeiten waren groß. Später fanden sie einen alten Mann, der einst in der zaristischen Armee gedient hatte und etwas Russisch sprach. Er half bei der Verständigung mit der Bevölkerung vor Ort. Jakov erinnert sich immer noch daran, wie die Dorfbewohner kamen, um sie zu begaffen: Im Dorf hatte sich rumgesprochen, dass eine jüdische Familie zu ihnen evakuiert worden war. Zuvor hatten die Einheimischen nie mit Juden zu tun gehabt und sie sich offenbar anders vorgestellt. Aber die Rezniks wurden gut aufgenommen – man brachte ihnen gleich ein totes Schaf und zeigte ihnen die Kolchosenkeller, wo man sich Gemüse nehmen durfte. Bald darauf wurden Vater und Onkel mobilisiert. Jascha blieb zusammen mit seiner 12-jährigen Schwester, seiner Mutter und der Familie des Onkels im Dorf zurück. Im Frühling zogen sie in ein verlassenes Haus. Man half ihnen den Garten zu pflügen, und sie pflanzten Kartoffeln, Zwiebeln und anderes Gemüse an. So meisterten die Stadtbewohner, die zuvor keine Ahnung von der Landwirtschaft gehabt hatten, das bäuerliche Leben.
Nach Baschkirien waren sie mit wenig Gepäck gekommen, in Sommerschuhen. Doch im Winter herrschten hier bis zu –40° C Frost. Die Einheimischen gingen in Bastschuhen. Jascha und sein Cousin lernten selbst solche Schuhe zu flechten und konnten das bald so gut, dass sie auf Bestellung Schuhe anfertigten und sie gegen Lebensmittel eintauschten. Jascha lernte auch, Pferde anzuschirren, Heu auf dem Schlitten zu transportieren, Garben zum Dreschen zu bringen und Holz zu hacken. Er arbeitete als Helfer in der Schmiede.
Im Dezember 1942 wurde Jakov mobilisiert, er war noch keine 18 Jahre alt. Die ersten drei Monate wurde er in einem Reserve-Regiment in Aqtöbe ausgebildet. Anschließend kam er als Soldat an die Front – zum 115. Pionierbataillon des 18. Panzer-Korps, 5. Garde-Panzerarmee der 3. Ukrainischen Front. Den ersten Tag an der Front wird Jakov nie vergessen. Die 80 jungen Soldaten des Reserveregiments wurden in Güterwagen in die Region Kirowograd in die Nähe der Front gebracht. Man teilte sie in Kolonnen auf und zeigte ihnen, wohin sie zu gehen hätten.
An einer Weggabelung wurde die Kolonne, in der Jakov war, nach links geschickt, die anderen 30 Personen gingen nach rechts. 15 Minuten später kamen deutsche Flugzeuge und beschossen die Kolonne der Soldaten, die nach rechts gegangen waren. Wie sie später erfuhren, wurden mehr als die Hälfte der jungen Männer am ersten Tag getötet und verwundet.
Jakov und seine Kollegen versteckten sich während der Angriffe in einem Graben. Am Abend gelangten sie ausgehungert zu dem Dorf Werbljuschki. Sie erhielten Rationen von Brot und Büchsenfleisch. Der Koch bot ihnen sogar den restlichen Borschtsch mit Fleisch an. Doch kaum saßen sie beim Essen, begann ein Luftangriff. Überall waren Explosionen zu hören und brannten Häuser. Unmittelbar nach dem ersten Angriff folgte der zweite und dritte. Der Koch rief den unerfahrenen Soldaten zu, dass sie aufs Feld hinaus fliehen und sich verstecken sollten. So überlebten sie den Luftangriff.
Jakovs Bataillon nahm an schweren Kämpfen in der Ukraine, in Rumänien, Jugoslawien, Ungarn und Österreich teil. Sie errichteten Beobachtungspunkte und Übersetzstellen, entminten Brücken und Straßen. Das Korps, in dem Jakov diente, war an der Korsun-Shevchenkovsky-Offensive im Januar/Februar 1944 beteiligt. Ende März 1944 erreichten sie die rumänische Grenze in der Nähe der Stadt Jassy. Hier blieben sie zwei Monate stationiert, um sich neu zu organisieren. Jakov erinnert sich noch deutlich an die Maisfelder rundherum und dass sich die übliche Ernährung der Soldaten plötzlich änderte – nun gab es Suppe und Grütze aus Mais. Offenbar hatte das Oberkommando entschieden, dass man für die Ernährung im Ausland auf die lokalen Ressourcen zurückgreifen sollte.
Am 20. August 1944 begann die Operation Jassy-Kischniew. Im Zuge einer zehntägigen Offensive befreiten sie Moldawien und einen Teil Rumäniens.
Den Tag der Befreiung erlebte er in Österreich. Nach dem Krieg diente er im Rang eines Sergeanten bis zum Juli 1947 in Wien. Im Dezember wurde er demobilisiert.
Jakov wurde der Orden des Vaterländischen Krieges II. Grades verliehen, die Medaillen »Für Tapferkeit«, »Für die Befreiung von Budapest«, »Für die Befreiung von Wien« und andere Auszeichnungen.
Nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt Schepetowka wurde er berufstätig und schloss mit Bestnoten die Abendschule ab. Dann absolvierte er mit Auszeichnung ein Studium an der Ökonomischen Fakultät der Universität von Kiew. Er arbeitete in einer Fabrik und einer Forschungs- und Produktionsvereinigung, leitete die Wirtschaftsabteilung, lehrte Ökonomie am Institut für Höhere Studien des Ministeriums für Gerätebau und an der Höheren Parteischule des ZK der Ukraine.
Seit 1998 lebt Jakov Reznik in Berlin. Seit 2003 ist er Vorsitzender des Klubs der Veteranen in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Mit seiner Frau Zilja lebt er seit 54 Jahren zusammen. Sein Sohn, die Enkelin und die geliebte Urenkelin Alisa leben in Israel.
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