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Vom »Cafe Größenwahn« in den Tod
01.Januar 2010 | Beiträge – jüdisches berlin | Gedenken
Ein Gedenkbuch über die vertriebenen und die ermordeten Charlottenburger Juden
Ich bin, vor jenen »tausend Jahren«, / Viel in der Welt herumgefahren. / Schön war die Fremde, doch Ersatz. / Mein Heimweh hieß Savignyplatz. (Mascha Kaleko)
In den 1920er Jahren waren Charlottenburg und Wilmersdorf die Berliner Bezirke mit den meisten jüdischen Bewohnern. Auch wenn sie dies (auch dank der hier konzentrierten jüdischen Infrastruktur von Gemeindehaus über Synagogen und Seniorenzentrum bis hin zur Heinz-Galinski-Schule) heute wieder sind – vergleichbar mit der Situation vor 1933 ist dies nicht, weder quantitativ noch qualitativ.
Der unlängst erschienene Band des »Vereins zur Förderung des Gedenkbuches für die Charlottenburger Juden« widmet sich einem »Aderlass«, von dem »sich Deutschland bis heute nicht erholt« hat, wie die Autoren schreiben. Gemeint ist die fast vollständige Ermordung und Vertreibung der Juden – in diesem Fall akribisch recherchiert am Beispiel Charlottenburg.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die königliche Residenzstadt Ausflugsgebiet für die Berliner, zog aber bereits Industriebetriebe wie Siemens an, was der Stadt ein rasantes Wachstum bescherte. 1893 hatte Charlottenburg erstmals über 100 000 Einwohner, 1910 waren es bereits dreimal soviel. Unter den Neubürgern waren auch viele aufstrebende jüdische Familien.
Die berühmtesten Schilderungen des zunehmend mondänen und selbstbewussten Charlottenburger Milieus stammen von jüdischen Autoren, von Georg Hermann in »Jettchen Gebert« und von Walter Benjamin, der am Savignyplatz zur Schule ging, in »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert«. Der erste wurde vergast, der zweite brachte sich auf der Flucht vor den Nazischergen um, bevor man ihn umbringen konnte – so wie die über 6 000 anderen Charlottenburger, die mit ihren Lebensdaten und letzten Adressen fast 200 Seiten des Gedenkbuches füllen.
Das Buch gibt aber nicht nur Opfern ihren Namen zurück. Es vermittelt aus verschiedenen Perspektiven auch viel von der Atmosphäre des Ortes, der seinen kometenhaften Aufstieg zur City West (1920 wurde die Stadt administrativ in das neue Groß-Berlin eingegliedert) wesentlich seinen jüdischen Bürgern zu verdanken hat.
Ausdruck des Wunsches nach Gleichberechtigung war beispielsweise der Drang des jungen bürgerlichen Judentums zur Freimaurerbewegung. Ein Kapitel widmet sich der 1895 gegründeten Loge »Zu den drei Sternen« (später »Zum Spiegel der Wahrheit«), deren Logenlokal sich bis 1913 in der Joachimstaler Straße 13 befand, dort, wo bis 2006 die Verwaltung der Jüdischen Gemeinde saß. Gleich um die Ecke, am Kurfürstendamm, verlief die Lebensader des neuen Zentrums. Der Anteil jüdischer Bewohner war hier mit 25 Prozent (1910) besonders hoch. 1907 errichtete Emil Jandorf hier sein Kaufhaus des Westens, das später in den Besitz des zweiten großen jüdischen Kaufhausimperiums von Hermann Tietz (Hertie) überging, und 1912 wurde die Synagoge in der Fasanenstraße eröffnet. Ein anderer spektakulärer »Hingucker« entstand in den 1920ern am heutigen Ku’damm-Eck, als das Wäschehaus Grünfeld sich nach einer kleinen Filiale (mit kostenlosem Pendelverkehr zum Haupthaus in der Leipziger Straße) einen hypermodernen, lichtdurchfluteten Konsumtempel mit nie dagewesener kreisrunder Innentreppe und gläserner Fahrstuhlröhre leistete. Die »Grünfeld-Ecke« mit ihrer horizontal dreigeteilten Glasfassade und den auffälligen senkrechten Neonleuchten war schon von Weitem ein Blickfang und fortan der ideale Treffpunkt der Berliner für einen Ku’dammbummel. Doch 1938 begann das Kesseltreiben gegen die erfolgreiche Firma, gegen Angestellte, Kunden, Zulieferer, Kreditgeber und sogar gegen Zeitungen, die Anzeigen des Wäschehauses druckten. Den Grünfelds blieb nichts übrig als weit unter Wert zu verkaufen – an die Firma Max Kühl (die fortan mit »Grünfeld in deutschem Besitz!« warb). Doch selbst dieser Verkaufserlös wurde den Grünfelds vom NS-Staat wieder abgenommen, als sie bald darauf nach Palästina auswanderten. Die Firma Max Kühl (in deren Geschichtsschreibung die Arisierung nicht vorkommt) überlebte den Krieg bestens, betrieb danach wieder ein Geschäft am Ku’damm, Ecke Fasanenstraße und eröffnete erst im April 2009 Ecke Grolmannstraße eine Filiale.
Die kulturelle und intellektuelle Avantgarde von Else Lasker-Schüler bis Martin Buber hatte sich schon vor dem Ersten Weltkrieg am Ku’damm zusammengefunden, im Café des Westens, genannt »Café Größenwahn« (Hausnummer 18/19), später dann im Romanischen Café. In Mampes Guter Stube (Nr. 14/15) saß Joseph Roth und schrieb am »Radetzkymarsch«, in Nummer 206 betrieb Max Reinhardt die »Komödie«… Kein anderer Berliner Bezirk kann (konnte) mit einer solchen Fülle klangvoller, in aller Welt bekannter Namen aufwarten. Hier wohnte der Soziologe Simmel, der Sexualwissenschaftler Hirschfeld, die Kunsthändler Cassirer, die (späteren Hollywood-)Schauspieler Bois und Lorre, die Komponisten Schönberg und Weill, die Schriftsteller Else Ury (»Nesthäkchen«) und Erich Mühsam, der schon 1934 im KZ Oranienburg ermordet wurde.
Das Buch widmet sich aber auch all den »kleinen« Leuten, die in Vergessenheit geraten sind. Ein Kapitel dreht sich um die jüdischen Anwälte im Bezirk, ein anderes um getaufte Juden oder um Kinder: das jüngste Charlottenburger Opfer war Zilla Schlesinger, geboren am 8. Februar 1943, deportiert am 4. März, nach Auschwitz. Eine Zeittafel mit Gesetzen, Verordnungen und Geschehnissen, vom Anpöbeln jüdischer Passanten auf dem Ku’damm (12.9.1931) bis zur letzten Deportation (27.3.1945) und ein Kapitel mit jüdischen Orten im Bezirk ergänzen das Buch. Hier finden sich Angaben zu den vielen jüdischen Hilfsvereinen, Religionsschulen, rituellen Speisehäusern oder zum legendären Palästina-Amt in der Meinekestraße.
Zusammengetragen wurden auch Erinnerungen ehemaliger Charlottenburger. Günther Fontheim beschreibt seine Jugend am Westend und die Olympiade 1936, die im Charlottenburger Olympiastadion stattfand, wo der 14-jährige mit seiner sportbegeisterten Mutter das Fußballendspiel sah. Ein Foto der nach Kolumbien ausgewanderten Familie Cohn zeigt ihr Haus in der Windscheidstraße im Jahre 1936: jeder Balkon ist mit der Hakenkreuzfahne beflaggt, bis auf ihr eigener. In dieser Straße enden auch die Erinnerungen von Peter Reiche: Er, aufgewachsen gegenüber dem Amtsgericht Charlottenburg und gerettet dank Kindertransport nach England, berichtet über seinen Vater, den Arzt Dr. Paul Reiche, der, nach dem er Theresienstadt überlebt hat, bis zu seinem Tod 1953 »teilweise mit den selben treugebliebenen Patienten« in der Windscheidstraße weiter praktizierte.
Erhalten gebliebene Briefwechsel zwischen Emigrierten und ihren in Berlin gefangenen Angehörigen sind selten. Im Fall der abgedruckten Korrespondenz der Familie des Fabrikbesitzers Max Rychwalski, Kurfürstendamm 96, lässt sich die Perfidie der »Judenpolitik« und ihre Auswirkungen bis in die alltäglichen Details verfolgen. Von den Mitgliedern der großen Familie, die hier ihre Pläne, Hoffnungen und Ängste miteinander teilen, wurden zwei Drittel ermordet.
Erinnert wird aber auch an uneigennützige »stille Helden«, an Klara Grüger, eine »unpolitische« couragierte Bäckersfrau, die Juden geholfen hat, mit Brot, Unterkunft, gefälschten Unterschriften und – menschlichem Verhalten, genau wie die Schwestern des Ordens »Unserer lieben Frau«, die in ihrem Schülerinnenheim in der Ahornallee unter Einsatz ihres Lebens unzählige von der Deportation bedrohte Kinder und Erwachsene versteckten.
Judith Kessler
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