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Viel Gepäck im deutschen Wald
28.September 2011 | Beiträge – jüdisches berlin | Kultur
Positionen zu deutschen Wirklichkeiten in der Ausstellung »Heimatkunde« im Jüdischen Museum
Eine große Vitrine mit reichlich schwarz-rot-gold, eine Mischung, die inzwischen Regenponchos und Cola-Flaschen färbt, zusammen mit dem türkischen Halbmond auftritt und für den jüdischen Oberproll Oliver Polak genauso wie für Blondie Claudia Schiffer steht, die in eine Deutschland-Fahne gewickelt, für das »land of ideas« wirbt – Objekte aus dem »Archivraum der Populärkultur«, den die hauseigenen Kuratoren des Jüdischen Museums Berlin für ihre Sonderausstellung »Heimatkunde« bestückt haben.
Das Jüdische Museum Berlin blickt zu seinem 10-jährigen Jubiläum auf Gegenwart und Zukunft eines Landes, dass inzwischen fast 20 Prozent Bürger mit »Migrationshintergrund« hat, in dem vertraute Selbstbilder bröckeln und sich die Gesellschaft im Umbruch befindet. Minoritäten, die vom Wohlwollen der Majorität abhängig sind, haben eine besonders sensible Wahrnehmung, weiß Programmdirektorin Cilly Kugelmann und hat 30 Künstler – die meisten Bindestrich-Deutsche – eingeladen, ihre subjektive Sicht auf das heutige Deutschland und auf ihre eigene Identität zu präsentieren. Wie geht Deutschland mit seinen Minderheiten um, können Minoritäten hier ein Gefühl des Zuhauseseins entwickeln, wie partizipieren sie an der Gesellschaft?
Gefragt wurden west- oder ostdeutsch, russisch, türkisch, jüdisch, moslemisch und sonst wie Geprägte und es kann nicht verwundern, dass die Antworten und die Art ihrer Darstellung wie schon der Archivraum der Populärkultur einem großen Panoptikum gleichen, einem Panoptikum auf schwankenden Schrägen, die die Libeskind-Architektur aufgreifen. Was (und wen) es nicht alles gibt in diesem Land zwischen Nationalbewusstsein, Heimatgefühl, Zugehörigkeit und Ausgrenzung, zwischen jüdischer Wüste und deutschem Wald!
Neben bekannten Namen wie Via Lewandowski, Durs Grünbein und Micha Ulman stellen sich Newcomer vor wie der junge Israeli Benyamin Reich, der eine fotografische Reise in seine orthodoxe Kindheit unternimmt. Auch Azra Akšamija, die aus Bosnien stammt, befasste sich mit dem Thema Religion »zwischen den Welten«: Aus IKEA-Rollos hat sie traditionelle islamische Fensterverkleidungen gebaut und mit ihrer »Dirndlmoschee«, einem Dirndlkleid, das sich in einen Gebetsraum für drei Personen verwandeln lässt, kann sie ihre Religion auch im Bayrischen Wald bei sich tragen.
Der im Iran geborene Maziar Moradi zeigt die Fotoserie »Ich werde deutsch«, verstörende Bilder, die wie Momentaufnahmen aus einem langen Film anmuten, bei dem die eigentliche Geschichte der Dargestellten verborgen bleibt. Anny und Sibel Öztürk aus Frankfurt haben eine 16 Meter breite Fototapete aus deutscher und familiärer Geschichte entworfen; der Kalifornier Paul Brody präsentiert eine Klangbiografie, für die er Gespräche über das Hiersein zu mehreren Kompositionen verdichtet hat. Özlem Günyol lässt ihre Video-Protagonisten eine Art »Stille Post« spielen – es sind Dolmetscher, die Texte aus dem Deutschen ins Türkische und mehrfach hin und zurück übersetzen und dabei je nach Persönlichkeit neue Bedeutungsebenen schaffen.
Mehrere Arbeiten umkreisen das Thema Familienerinnerung und kollektives Gedächtnis, das sich hier an Orten festmacht. Arnold Dreyblatt gruppiert in der Installation »My Baggage« 150 Dokumente seiner Familiengeschichte – Faxe, Geburtsurkunden, Reisepässe – aus Osteuropa, USA und Berlin auf durchsichtigem Plexiglas. Die Israelin Maya Zack rekonstruiert deutsche Wohnzimmer nach der Erzählung eines jüdischen Bewohners, der in den 1930er Jahren fliehen musste, als große 3D-Bilder. Clemens Wedemeyer lässt seinen Film »Otjesd« in einer endlosen Warteschlange vor dem deutschen Konsulat in Moskau und am Stadtrand von Berlin spielen.
In Candice Breitz’ Arbeit bewegen zehn Neudeutsche ihre Lippen, während die darauf synchronisierten Stimmen deutsches Liedgut tönen lassen – die Kontexte verschieben sich, wo ein Chinese »Unrasiert und fern der Heimat« johlt oder einer Ukrainerin »Jenseits von Eden« auf den Mund geschneidert wird.
Mit nationalen, emotional hoch aufgeladenen Mythen wie dem deutschen Wald spielen unter anderem Lilli Engel und Raffael Rheinsberg. Sie haben eine begehbare »Naturkunstzelle« gebaut, einen hohen blickdichten Heckenkubus aus echten Eiben – das deutsche Schrebergartenidyll; dem Ungetüm gegenüber steht ein Gedicht von Hans Arp: »Im Wald! Im Wald! Wo die großen grünen Bäume rauschen…«. Hier spielt auch Julian Rosefeldts Filminstallation »Meine Heimat ist ein düsteres wolkenverhangenes Land« – bei ihm ein Szenario mit hohen Felsen und sattgrünen Riesenbäumen, das von Wölfen, singenden Bayern, Rotkäppchen und demonstrierenden Naturschützern bevölkert ist. Maria Thereza Alves hingegen hat überall in Berlin Bodenproben gesammelt und »Berliner Pflanzen« wachsen lassen, die aber ursprünglich auch aus »eingewanderten Samen« stammen.
»Medinat Weimar« ist eine von Ronen Eidelman geschaffene sozial-utopische Bewegung für die Errichtung eines jüdischen Staates in Thüringen. Sonst im Internet aktiv (www.medinatweimar.org) hat er im Museum nun ein »Büro« der Bewegung (samt Schreibtisch mit Familienfoto, das Mel Brooks zeigt) eingerichtet und mit einem Aktivisten besetzt, der Mitgliedsanträge der Besucher annimmt.
Die Ausstellung kommt wohltuender Weise ohne erläuternde Kommentare aus und überlässt das Interpretieren den Besuchern – und das noch bis 29. Januar, täglich 10 bis 20 Uhr.
Judith Kessler
jüdisches berlin
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