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Verharmlost – verschwiegen – vertuscht?!

01.Januar 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Politik

Eine Podiumsdiskussion über die Hintergründe und Folgen der Mordserie des rechtsextremistischen Terrornetzwerks »Nationalsozialistischer Untergrund«

Der traurige Anlass für die Veranstaltung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus Ende November im Centrum Judaicum war die Mordserie einer Rechtsradikalen Organisation, die sich »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) nannte. Die Gruppe ermordete mindestens zehn Menschen aus rassistischen Gründen. Bisher ist ungeklärt, für wie viele Taten die Gruppe insgesamt verantwortlich war. Bis heute blieben beispielsweise die Sprengstoffanschläge auf das Grab von Heinz Galinski im Jahre 1998 ungeklärt, des weiteren ein Anschlag auf zehn Menschen sechs von ihnen Juden - in Düsseldorf im Juli 2000, bei dem der Splitter eines Sprengsatzes ein ungeborenes Kind tötete. Auch ein Brandanschlag auf die Trauerhalle des Jüdischen Friedhofs in Potsdam 2001 trägt die Handschrift der Neonazis.

Nach dem Grußwort der stellvertretenden Gemeindevorsitzenden Mirjam Marcus begann die Podiumsdiskussion mit Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Bundestages, Reinhard Borgmann, Chef der TV-Sendung »Kontraste«, Carl Chung vom Mobilen Beratungsteam »Ostkreuz« und dem NS-Szene-Aussteiger Jörg Fischer-Aharon sowie etwas über 100 Gästen.

Die Teilnehmer waren sich in der Forderung nach restloser Aufklärung der Ereignisse durch Politik und Behörden einig. »Was tut der Verfassungsschutz? Führt er ein Eigenleben?«, war eine der Fragen, die sich Wolfgang Thierse stellte. So wurde etwa ein Beamter des Verfassungsschutzes nur wenige Minuten vor mehreren Morden am Tatort gesichtet, wie Thierse berichtete. Auch die Rekrutierung und Auswahl der V-Leute scheine Mängel aufzuweisen. Sie seien meist Mitglieder der rechtsradikalen Szene, die sich geistig nicht von ihren »Kameraden« distanziert hätten. Er bezeichnete die V-Leute des Verfassungsschutzes als »staatlich bezahlte Provokateure und Straftäter«. Jörg Fischer-Aharon gab das Beispiel von Tino Brandt zum Besten. Der war Gründer des »Thüringer Heimatschutzes« und aktives Mitglied der rechten Szene. Bei seiner Enttarnung wurde bekannt, dass er insgesamt ungefähr 200 000 DM vom Staat bekommen hatte. Aus eben jenem »Thüringer Heimatschutz« ging später auch der NSU hervor.

v.l.n.r.: Carl Chung, Jörg Fischer-Aharon, Wolfgang Thierse, Reinhard Borgmann. Foto: Levi SalomonFragen aus dem Publikum. Foto: Levi Salomon

Ein Teilnehmer aus dem Publikum fragte, ob eine Institution, deren Mitarbeiter überwiegend von der Gestapo übernommen wurden, nicht durch personelle und ideologische Sukzession eine automatische Distanz zu demokratischen Werten habe. Carls Chung erinnerte daran, dass der Verfassungsschutz föderal strukturiert ist und so sei auch »Verfassungsschutz nicht gleich Verfassungsschutz«, der Vorwurf somit ein Pauschalurteil. Wolfgang Thierse schlug zur besseren Überwachung dieser Behörde ein Gremium aus Bund und Ländern vor. Außerdem wolle er eine Debatte über eine etwaige Reduzierung der Ämter anstoßen.

Auch in Hinsicht auf die Polizei waren Fragen nach der Kompetenz der Behörde und der einzelner Beamter laut geworden. Ein strukturelles Problem gäbe es bei der Aufklärung rechter Straftaten schon alleine deshalb, weil meistens Beamte eingesetzt würden, die die Täter persönlich kennen, so Reinhard Borgmann. Wolfgang Thierse sprach davon, dass besonders in Kleinstädten oder Dörfern rechtsextreme Taten durch die Polizei heruntergespielt würden. Gerade in Ostdeutschland sei eine Nähe zwischen Tätern und Beamten gegeben und die Behörden, die zur Aufklärung herangezogen wurden, stehen, so Borgmann »in ideologischer Nähe zu dem, was sie aufklären sollen«. Auch bei der Durchsetzung des Demonstrationsrechts seien »die Aufmerksamkeiten gegenüber den Gefahren nicht angemessen verteilt«, ergänzte Thierse. Er meinte damit Ereignisse wie die alljährliche Großdemonstration von Neonazis durch die Innenstadt Dresdens. Während das Demonstrationsrecht der Rechtsextremen geschützt wurde, wären die Teilnehmer der Gegendemonstrationen massiven Repressionen durch die Polizei ausgesetzt worden. Er frage sich, ob »die Rechtskenntnis der Polizei ausreichend« sei.

In Bezug auf ein NPD-Verbot stellte Wolfgang Thierse fest, dass es der rechten Szene finanziellen Schaden zufügen würde. Außerdem wären dadurch die Organisationsstrukturen der Neonazis weitgehend beeinträchtigt. Man müsse nun aufdecken, welche Verstrickungen zwischen der NPD, den Kameradschaften und dem terroristischen Spektrum existieren. Reinhard Borgmann äußerte die Befürchtung, dass man die Organisation in den Untergrund dränge und damit möglicherweise das kriminelle Potential verschärfe. »Die Beschäftigung mit dem NPD-Verbot darf kein Ersatz für effektive Maßnahmen sein, die wir ohnehin brauchen«, so Borgmann.

Laut Bundesregierung habe es in Deutschland in den letzten 20 Jahren 40 Morde aus rechtsradikalen Motiven gegeben, berichtete der Bundestagsvizepräsident. Andere Organisationen sprächen allerdings von etwa 150 Todesopfern. »Die Zahlen legen nahe, dass es eine geradezu systematische Unterschätzung der rechtsextremen Gewalt gibt«. Auch Carl Chung teilt diese Ansicht. Er war auf einem beruflichen Treffen, als er die Meldung über die Mordserie erhielt. »Erschrocken waren wir überrascht nicht. Und die Kollegen aus Sachsen und Thüringen waren am wenigsten überrascht«.

Wolgang Thierse berichtete von einer »Atmosphäre der Angst« in Teilen der neuen Bundesländern. Dennoch spielten viele ostdeutsche Bürgermeister die braune Gefahr herunter oder beleidigten gar diejenigen, die die Probleme nicht verschweigen wollten.

Carl Chung stellte fest: »Der größte Teil des Straßenterrors, der alltäglichen Diskriminierung, geht von Unorganisierten aus, von ganz normalen Menschen«. Das Problem zeige sich beispielsweise in der Reaktion der Medien auf die Mordserie. Dort sei von »Türkenmorden« die Rede gewesen, obwohl es sich bei den Opfern zur Hälfte um deutsche Staatsbürger gehandelt hatte. Hier wirke das »Wir-die-Denken des völkischen Nationalismus weiter nach«. Es sei auch der Mangel an Teilhabechancen und persönlichen Gestaltungsmöglichkeiten, der viele Menschen zum Extremismus zu den Nazis oder zu den Islamisten drängen würde, meint Chung. Um dem entgegenzuwirken, müssten Partizipationserfahrungen geschaffen werden.

Hannah Magin/Levi Salomon