Beitragssuche
Vergesst den Rabbiner
01.Oktober 2019 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
Gedanken zu Jom Kippur von Gemeinderabbiner Yehuda Teichtal
Es ist eine alte Tradition unter jüdischen Gemeinden weltweit, für die Gebetsg-ttesdienste zu den Hohen Feiertagen, einen Kantor zu engagieren, oftmals von einem Chor begleitet, um die vielen Menschen an den drei Tagen von Rosch Haschana und Jom Kippur zu unterhalten, zu motivieren und zu inspirieren.
In vielen Gemeinden zieht der Kantor alle Aufmerksamkeit auf sich, da er sozusagen die primäre Erfahrung der Hohen Feiertage verkörpert, seine kantoralen Fähigkeiten, seine Handhabung der Töne und Tonlagen stellen den Zenit der G-ttesdienste dar. Insbesondere wenn die musikalische Darbietung mit einem Rabbiner einhergeht, der gut Witze erzählen oder die Menschen berühren kann, dann sind die G-ttesdienst ein Riesenerfolg.
»Spucke nicht in den Brunnen aus welchem Du trinkst«, schlägt der Talmud vor. Ich sollte der letzte sein, der dieses Phänomen kritisiert, da auch ich von einer wunderbaren Gemeinde in New York engagiert worden bin, um ihr als Kantor und Redenschwinger zu dienen. Doch ein berührender Gedanke des großen Meisters des Baal Schem Tow hinsichtlich dieses »Kantor- und Rabbiner- Phänomens« ist es wert, dass sich alle Gemeinden und jeder von uns die Zeit nimmt, darüber zu reflektieren.
Der Baal Schem Tow, einer der tiefgründigsten Denker in der Geschichte der jüdischen Spiritualität (1698-1760) hat mal folgende allegorische Geschichte erzählt:
Vor langer Zeit, erzählte der Baal Schem Tow, wurde der Löwe so richtig wütend auf all die anderen Tiere im Dschungel. Da der Löwe der »König der Tiere« und der mächtigste und dominanteste unter ihnen ist, hat seine Wut große Furcht in den Herzen der anderen Tiere hervorgerufen.
Was sollen wir tun?«, murmelten all die Tiere bei einer Notfallbesprechung. »Wenn der Löwe seiner Wut freien Lauf lässt, sind wir alle erledigt«.
»Kein Sorge«, ertönte die Stimme des Fuchses, der als der schlauste unter den Tieren gilt. »In den Tiefen meines Hirns sind 300 Geschichten, Anekdoten und Vorfälle gespeichert. Wenn ich diese dem Löwen vorstelle, wird sich seine Laune ändern«.
Eine Welle der Freude durchströmte die Tiere und sie machten sich auf den Weg zum Löwen nach Hause, wo der Fuchs ihn beruhigen und die freundliche Stimmung zwischen dem Löwen und seinen Untertanen wiederherstellen würde.
Auf dem Weg dorthin durch den Dschungel drehte sich der Fuchs plötzlich zu einem seiner tierischen Freunde um und sagte: »Weißt Du was, ich habe 100 meiner unterhaltsamen Geschichten vergessen«.
Der Gedächtnisverlust des Fuchses macht schnell die Runde. Viele Tiere wurden von großer Furcht übermannt, aber schon bald ertönte die beruhigende Stimme von Herrn Bär.
»Keine Sorge«, sagte der Bär. »Zweihundert der Geschichten des genialen Fuchses sind mehr als genug, um den arroganten Löwen zum Lachen zu bringen. »Die reichen aus, um den Job zu erledigen«, stimmte der Wolf zu.
Kurze Zeit später näherte sich eine erstaunlich große Gruppe Tiere dem Löwen und der Fuchs wandte sich an einen anderen Kollegen. »Ich habe weitere 100 meiner Anekdoten vergessen«, jammerte der Fuchs. »Sie sind einfach weg«.
Die Furcht der Tiere wurde immer größer, aber schon bald ertönte die beschwichtigende Stimme von Herrn Hirsch: »Keine Sorge«, sagte er, »einhundert Geschichten des Fuchses werden ausreichen, um die Vorstellungskraft unseres simplen Königs auszufüllen«. »Ja, 100 Witze werden den Löwen besänftigen«, stimmte Herr Tiger zu.
Ein paar Momente später waren all die Hunderttausend Tiere bei der Höhle des Löwen angekommen. Der Löwe richtete sich zu seiner vollsten Macht und Größe auf, warf all seinen Untertanen einen scharfen Blick zu, welcher sie alle erschauern ließ.
Der Moment der Wahrheit war da und all Tiere blickten mit flehenden Augen zu ihrem schlauen Vertreter, dem Fuchs auf, dass er auf den Löwen zugehe und die große Mission der Versöhnung erfülle.
Genau in diesem Moment drehte der Fuchs sich zu den Tieren um und sagt, »es tut mir leid, aber ich habe auch meine letzten 100 Geschichten vergessen. Ich habe nichts mehr, was ich dem König erzählen kann«.
Die Tiere wurden hysterisch. »Du bist eine bösartiger Lügner«, schrien sie ihn an. »Du hast uns getäuscht. Was sollen wir jetzt tun?«
»Mein Job«, antwortete der Fuchs ganz ruhig, »war es, Euch davon zu überzeugen, von Euren Nestern zum Nest des Löwen zu laufen. Ich habe meine Aufgabe erfüllt. Ihr seid hier. Nun kann jeder von Euch seine eigene Stimme wiederfinden und seine eigene persönliche Beziehung zum König rehabilitieren«.
Diese Geschichte, so schließt der Baal Schem Tow, illustriert ein verbreitetes Problem unter institutionalisierten Religionen. Wir gehen in die Synagoge an Rosch Haschana oder an Jom Kippur oder wann auch immer im Jahr und verlassen uns auf die »Füchse« – die Kantoren und die Rabbiner – als unsere Vertreter beim König der Könige zu dienen.
»Die Predigt des Rabbiners heute war einfach unglaublich«, hören wir oft nach den G-ttesdiensten. »Er ist wirklich eindrucksvoll«. Oder: »Dieser Kantor? Seine Vibrato brachte meine Seele zum Schmelzen.« Diese Geistlichen werden allzu oft zu den »Füchsen«, die wissen, wie sie den Job für uns erledigen.
Doch früher oder später wird uns bewusst, dass die Füchse, bei allem gebührenden Respekt, nicht wirklich über das verfügen, was notwendig ist, um für uns mit dem König zu sprechen. Jeder von uns muss seine eigene innere Stimme, innere Leidenschaft und inneren Geist entdecken, um damit in deutlicher und einmaliger Stimme mit G-tt zu sprechen.
Kantoren und Rabbiner sollten sich selbst während der Hohen Feiertage (und auch den Rest des Jahres) als die Füchse des Baal Schem Tow betrachten: Ihre Funktion ist es, die Menschen davon zu überzeugen, ihre in sich abgeschlossenen Domänen zu verlassen und sich auf eine Reise zu etwas Tiefgründigem und Realen zu machen. Aber jeder einzelne von uns muss letztendlich allein in den Raum G-ttes eintreten.
Also verlassen Sie sich an diesem Rosch Haschana und Jom Kippur nicht auf irgendwelche Füchse. Sprechen Sie selbst direkt mit G-tt. In Ihren eigenen Worten, mit Ihrer eigenen Seele. Von Herz zu Herz, von Ihrem wahrsten Ort zu Seinem wahrsten Ort.
jüdisches berlin
2012_24 Alle Ausgaben
- Dezember 2024
- November 2024
- Oktober 2024
- September 2024
- Juni 2024
- Mai 2024
- April 2024
- März 2024
- Februar 2024
- Januar 2024
- Dezember 2023
- November 2023
- Oktober 2023
- September 2023
- Juni 2023
- Mai 2023
- April 2023
- März 2023
- Februar 2023
- Januar 2023
- Dezember 2022
- November 2022
- Oktober 2022
- September 2022
- Juni 2022
- Mai 2022
- April 2022
- März 2022
- Februar 2022
- Dezember 2021
- November 2021
- Oktober 2021
- September 2021
- Juni 2021
- Mai 2021
- April 2021
- Januar 2018
- März 2021
- Februar 2021
- Mai 2020
- Januar 2021
- Dezember 2020
- November 2020
- September 2020
- Oktober 2020
- Juni 2020
- April 2020
- März 2020
- Februar 2020
- Januar 2020
- September 2019
- November 2019
- Juni 2019
- Mai 2019
- April 2019
- März 2019
- Februar 2019
- Dezember 2018
- Januar 2019
- Mai 2015
- November 2018
- Oktober 2018
- September 2018
- Juni 2018
- Mai 2018
- April 2015
- März 2015
- März 2018
- Februar 2017
- Februar 2018
- fileadmin/redaktion/jb197_okt2017.pdf
- September 2017
- Juni 2017
- April 2017
- November 2017
- Januar 2017
- Dezember 2016
- November 2016
- Oktober 2016
- September 2016
- Juni 2016
- Mai 2016
- April 2016
- März 2016
- Februar 2016
- Januar 2016
- Dezember 2017
- Dezember 2015
- November 2015
- September 2015
- Juni 2015
- Oktober 2015
- Februar 2015
- Januar 2015
- Dezember 2014
- November 2014
- Januar 2022
- Oktober 2014
- September 2014
- Juni 2014
- Mai 2014
- März 2014
- Februar 2014
- Januar 2014
- Dezember 2013
- November 2013
- Oktober 2013
- Juni 2013
- Mai 2013
- April 2013
- März 2013
- Februar 2013
- Januar 2013
- Dezember 2012
- November 2012
- Oktober 2012
- September 2012
- Juni 2012
- Mai 2012
- April 2012
- März 2012
- Februar 2012
- Januar 2012