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»Umfrage 2002«

01.Juni 2003 | Beiträge – jüdisches berlin | Gemeinde

Eine Mitgliederbefragung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Von Judith Kessler

Im Jahr 2002 wurde in der Berliner Jüdischen Gemeinde – und erstmalig in Deutschland – eine Mitgliederbefragung durchgeführt, mit der Details zum religiösen und kulturellen Selbst-verständnis der Mitglieder sowie zur Beurteilung der Gemeinde und ihrer Institutionen erfasst werden  sollten.
Die Umfrageergebnisse wurde im Auftrag des Vorstandes der Jüdischen Gemeinde zu Berlin von der Sozialwissenschaftlerin Judith Kessler mittels eines deutsch- und russischsprachigen Fragebogens im »jüdisches berlin» ermittelt und ausgewertet. Auf den folgenden Seiten finden Sie eine Zusammenfassung
(die komplette Studie ist in der Gemeindebibliothek erhältlich) der wichtigsten Ergebnisse, so wie sie 2003 in einer Artikelserie im »jüdischen berlin« zu lesen war. Eine neue Studie müsset klären, was sich an den Einschätzungen inzwischen geändert hat-

Der Fragebogen der ersten Mitgliederbefragung wurde im Sommer 2002 als Einlage im „jüdischen berlin“ an ca. 6.000 Mitglieder-Haushalte verschickt und von 426 Haushalten/Personen beantwortet. Somit nahmen 7,1 Prozent der Mitgliederhaushalte an der Umfrage teil.
305 Personen füllten den Fragebogen in deutscher Sprache aus, 121 Personen in russischer Sprache. Die Ex-Sowjetunion als Geburtsland gaben jedoch mehr, nämlich 172 Befragte an. Von den übrigen wurden unter anderen 168 Personen in Deutschland geboren, 48 im restlichen Europa und 21 in Israel. Proportional (gemessen an der Herkunft der Gemeindemitglieder insgesamt) nahmen damit deutlich mehr in Deutschland geborene Mitglieder an der Umfrage teil als zugewanderte. Denn hier geboren sind lediglich 23 Prozent aller Mitglieder, in der Umfrage sind es jedoch 40,5 Prozent aller Teilnehmer. In der UdSSR geboren wurden wiederum zwar 63 Prozent aller Gemeindemitglieder, aber nur 41,5 Prozent der Umfrageteilnehmer.
Das Alter der Umfrageteilnehmer entspricht im Durchschnitt der Altersstruktur der Gesamtgemeinde. Ein Beispiel: Fünf Prozent der Umfrageteilnehmer waren zwischen 15 und 20 Jahre alt; der Anteil der 15- bis 20-jährigen Gemeindemitglieder liegt ebenfalls bei 5 Prozent. Dass proportional etwas mehr Ältere (hier vor allem die Gruppe der 61- bis 70-jährigen) teilnahmen, wird dadurch ausgeglichen, daß proportional auch die (jüngere) Gruppe der 31- bis 40-jährigen etwas stärker beteiligt war als es ihrem Mitgliederanteil entspricht.
Nach Geschlecht sortiert, nahmen 200 Männer und 218 Frauen teil (8 Personen machten keine Angaben). Der Frauenüberschuss entspricht der Geschlechterverteilung in der Gemeinde (Frauen dominieren mit 54 Prozent).
Ferner haben etwa 31,5 Prozent der Befragten eine Mittel- oder/und Fachschulbildung und 68,5 Pro-zent eine Hochschulbildung (davon 47 Prozent Frauen) genossen. Auch in diesem Punkt besteht eine ungefähre Übereinstimmung zwischen den Daten der Umfrageteilnehmer und denen der Gemeindemitglieder insgesamt.
Zusammengefasst kann also davon ausgegangen werden, dass die Umfrageergebnisse repräsentativ für die Mitglieder der Berliner Gemeinde sein werden, da wir nicht Aussagen einer einzelnen oder bestimmten Alters-, Herkunfts- oder Bildungsschicht erhalten haben, sondern einen Querschnitt durch die Gesamtgemeinde (bzw. deren aktiveren Teil, also den, der bereit war, die Mühe des Fragebogenausfüllens auf sich zu nehmen). Wir dürfen also gespannt auf die einzelnen Ergebnisse sein.


Wenn ich Rabbi wäre …
Mitgliederumfrage I: Religion und Kultus.

Die Jüdische Gemeinde verfügt offensichtlich über einen erheblichen Mitgliederanteil, der religiösen Traditionen skeptisch oder ablehnend gegenübersteht oder/und sich nicht (mehr) religiös definiert. Möglicherweise ist es an der Zeit, die ausschließliche Selbstdefinition als Kultusgemeinde, beziehungsweise den ganzen Bereich des religiösen Lebens zu überdenken.
So gibt die überwältigende Mehrheit der Befragten, fast 80 Prozent, an, in einer nicht oder nur „etwas“ religiösen Familie aufgewachsen zu sein. Und nur 14 Prozent nennen „Religiosität“ als Grund für ihre Mitgliedschaft in der Jüdischen Gemeinde.
Dennoch finden es aber fast 80 Prozent „sehr“ oder „ziemlich“ wichtig, auf einem jüdischen Friedhof beerdigt zu werden. Offenbar ist die Herkunft, sind die „Wurzeln“ von eminenter Bedeutung, und will man neben „Seinesgleichen“ begraben sein, selbst wenn eine religiöse Bindung nur noch rudimentär vorhanden ist. Positiv gewendet: der größte Teil der Mitglieder identifiziert sich – zumindest in dieser Form – mit seinem Jüdischsein, ein Potential, das darauf wartet, sich auch im Leben in die jüdische Gemeinschaft einzubringen.
Ein weiteres Indiz für eine positive Identifikation mit dem Judentum sind die Angaben zum Thema Partnerwahl. Mehr als die Hälfte aller Befragten hofft, dass das eigene Kind einen jüdischen Partner wählt. Nur 22 Prozent hält dies für gänzlich unwichtig. Bei geringen Differenzen zwischen den Geschlechtern und den Altergruppen ist nun interessant, dass zu keiner einzigen anderen Frage in puncto Judentum soviel Zustimmung bei GUS-Zuwanderern besteht wie bei dieser: 67 Prozent von ihnen (aber nur 43 Prozent der in Deutschland geborenen) finden einen jüdischen Partner für ihr Kind wichtig.
Diesen sehr allgemeinen Angaben steht jedoch die konkrete Ausgestaltung des eigenen religiösen Lebens gegenüber: 29 Prozent aller Befragten ordnen sich dem „liberalen“ Judentum zu, 14 Prozent dem konservativ-traditionellen Judentum, 16 Prozent dem Reformjudentum, 8 Prozent der Orthodoxie, 12 Prozent verstehen sich explizit als Atheisten (!), 16 Prozent wissen nicht, wo sie sich einordnen sollen oder gehören „keiner“ Richtung an.
Insgesamt fällt auf, dass Männer eher als Frauen die Extrempositionen zu beiden Seiten des Maßstabes besetzen: sie gehen – überspitzt gesagt – entweder gar nicht oder gleich mehrmals in der Woche zur Synagoge, sie sind entweder „orthodox“ oder „atheistisch“, usw., während sich die Frauen in der Tendenz eher den gemäßigten Positionen zuordnen. Weiter fällt auf, dass junge Leute häufiger „orthodoxe“ bzw. „gesetzestreue“ Positionen vertreten und sich gleichzeitig häufiger als andere eher verunsichert („kann ich nicht sagen“) als explizit ablehnend äußern. Hier deutet sich eine Chance für die Ge-meinde an. Explizite Gegner jüdischer Rituale/ Traditionen wird man nicht ändern: Unwissen/Unsicherheiten lassen sich hingegen noch am ehesten abbauen und in Zustimmung verwandeln, zumal bei jungen Menschen.
Dessen ungeachtet ergibt sich ein mitunter alarmierendes Bild bei ganz konkreten Fragen, wie: „Würden Sie Ihr Kind beschneiden lassen?“ Ein Drittel der Befragten würde ihren Sohn nicht oder wahr-scheinlich nicht beschneiden lassen (unter den GUS-Zuwanderern sogar die Hälfte). Eine Bar- oder Bat-Mizwa würden nur 59 Prozent befürworten. (Einen Hoffnungsschimmer bilden hier die jungen Mitglieder: sie sind durchgängig positiv eingestellt.)
Immerhin 28 Prozent der Befragten gibt an, ein- bis mehrmals pro Woche zur Synagoge zu gehen. Mehr als die Hälfte besucht sie jedoch nur zu den Hohen Feiertagen oder „sehr selten“. 8 Prozent gehen „nie“ in die Synagoge.
Als häufigster Grund des Synagogenbesuchs wird „Tradition“ genannt (57 Prozent), vor allem bei Zuwanderern und Frauen; immerhin ein Drittel gibt außerdem an, seinen „Glauben praktizieren“ zu wollen (vor allem hierzulande Geborene) und ein Viertel will „Leute treffen“. Männer gehen eher aus Pflichtgefühl und Respekt vor Gott in die Synagoge, Frauen eher aus Respekt vor den Eltern und um sich zu informieren.
Qualität, Modernität, Mitbestimmung könnten die Stichworte lauten, die dem Religionssektor mehr Zulauf versprechen, glaubt man den Aussagen der Befragten. Fast ein Drittel ist der Ansicht, der Synagogenbesuch könnte durch interessantere Predigten attraktiver werden. Moniert wird insbesondere, dass die Gottesdienste nicht jugendgerecht und auch nicht gegenwarts- bzw. realitätsbezogen sind. Ein Viertel aller Befragten wünscht sich flankierende Veranstaltungen vor oder nach dem Gottesdienst. Fast 20 Prozent wollen stärker in die Entscheidungen der Synagogen einbezogen werden.
Im Kultusbereich fehlt 21 Prozent der Mitglieder außerdem vor allem „seelsorgerische Betreuung durch Rabbiner“. Sonstige – bislang nicht existierende Angebote (Chewra Kadischa, Mohel, Rabbinerin, Kinderbetreuung, russischsprachige Rabbiner/Kantoren, etc.) wurden jeweils von 10–15 Prozent als „persönlich am meisten fehlend“ eingestuft.
37 Prozent der Befragten halten die Existenz koscherer Lebensmittelläden für wichtig; 27 Prozent behaupten, auch mehr Geld für koschere Lebensmittel ausgeben zu wollen (hier übrigens vor allem junge Leute). Erstaunlich ist jedoch, dass 10 Prozent derer, die sich als orthodox einstufen, koschere Läden nicht wichtig finden und 37 Prozent von ihnen auch nicht mehr bezahlen würden. Angesichts von nur 8 Prozent Gemeindemitglieder, die sich als tatsächlich „orthodox-praktizierend“ einstufen, stellt sich dennoch die Frage, ob es nicht preiswerter ist, die koschere Ernährung dieser Mitglieder zu subventio-nieren als die Händler.
In der aufschlussreichen Kategorie „Anderes“ orientieren sich die Eintragungen an dem Motto „zwei Juden – drei Meinungen“ – einer will weniger Religion, der nächste will mehr; eine verlangt eine sefardische Synagoge, die nächste eine weitere liberale; hier der Ruf nach mehr politischem Engagement der Rabbiner, dort die Aufforderung, die Rabbiner sollten sich aus der Politik heraushalten. Einheitsgemeinde eben. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten gibt es jedoch Forderungen, die durchgängig immer wieder geäußert werden. Diese betreffen weniger den Inhalt als die Form: „gegenseitiger Respekt“ der diversen religiösen Richtungen, „weniger Bürokratie“ im Kultusbereich, „Solidarität“ jenseits religiöser Vorgaben, stärkere Einbindung von Frauen und Mädchen, mehr Russischsprachiges sowie eine kontinuierlichere Anwesenheit von Rabbinern in den Synagogen und bei der Krankenbetreuung.
Aus dem Gesamtkontext ergibt sich, dass – egal wie sich der Kultusbereich anpasst oder ändert – ein Teil der Gemeindemitglieder einem religiösen Judentum grundsätzlich abgeneigt gegenüber steht. Auch ein größeres oder anders geartetes Angebot an religiösen Veranstaltungen oder Themen würde diese Menschen nach ihren eigenen Angaben nicht locken können. Trotzdem ist über die Hälfte aller Befragten der Ansicht, dass die Gemeinde in erster Linie eine Religionsträgerin ist. Bei der Auswertung der Antworten entsteht jedoch der Eindruck, dass stark zwischen der eigenen und der Rolle der Ge-meinschaft unterschieden wird: für die Religion sind „die Anderen“ zuständig. So ist auch ein Großteil der Befragten der Ansicht, dass die religiöse Erziehung der Jugend „sehr“ (39 Prozent) oder wenigstens „mittelwichtig“ (18 Prozent) ist. Allerdings kommt die Religion bei weiteren 36 Prozent der Befragten überhaupt nicht mehr im Erziehungskanon vor.
Wie gesagt, etwas mehr als die Hälfte der Antworter definiert die Gemeinde als Religionsträgerin, 48 Prozent betonen ihre Funktion als Interessenvertretung; etwa ein Drittel sieht in ihr vor allem eine Sozial- und Wohlfahrts- (besonders GUS-Zuwanderer) bzw. Kultur- und Freizeiteinrichtung. Diese Ergebnisse rufen nach einer innerjüdischen Debatte über das, was uns gemeinsam ist. Ist es am Ende doch die Religion? Und wenn Ja: Wie müsste der Bereich des religiösen Lebens seitens der Gemeinde anders gestaltet werden, damit sich die in Berlin lebenden Jüdinnen und Juden darin entfalten und artikulieren können?


Kultus- oder Kulturjuden?
Mitgliederumfrage Teil II: Kultur.


Im vorigen Teil der Umfrage hatten wir festgestellt, dass – selbst regelmäßiger – Synagogenbesuch nicht zwingend an eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Religion gekoppelt ist. Dies legen auch Details aus dem Teil der Umfrage nahe, der sich mit den – im weitesten Sinne – kulturellen Gewohnheiten und Vorlieben der Berliner Juden befasst. Hier wurde zum Beispiel danach gefragt, wovon die Mitglieder bei Gemeindeveranstaltungen gern mehr hätten. Während Themen, die mit Gesellschaftspolitik, deutschem Judentum oder Israel zu tun haben, jeweils von 27–30 Prozent der Befragten angegeben wurden, waren es bei Religionsthemen 17 Prozent. Bei den Veranstaltungen, die persönlich am meisten interessieren, taucht Religiöses zwar noch mit 26 Prozent auf, aber alle anderen Optionen wurden häufiger gewählt, bis auf Gedenkveranstaltungen, und das absolute Schlusslicht „Repräsentantenversammlung“ (4 Prozent). Die meisten haben mehrere angekreuzt. Absoluter Spitzenreiter sind „Konzerte“ – sie wurden von 50 Prozent aller angegeben; den zweiten Rang belegen „Vorträge“ mit 36 Prozent. Dann folgen Diskussionen, Feiern, Theater, Kurse, Exkursionen (letztere fast ausschließlich von Zuwanderern).
Diese Präferenzen decken sich mit anderen Angaben. Befragt nach der letzten Gemeindeveranstaltung, an der man/frau teilgenommen hat, konnten sich 32 Prozent der Befragten nicht mehr daran erinnern. Die anderen wiederum nannten am häufigsten den Gemeindeseder und den Purimball. Auch der WIZO-Basar, Chanukkaball und die Jüdischen Kulturtage wurden oft erwähnt. Ingesamt fanden sich Veranstaltungen von 37 verschiedenen jüdischen Anbietern, von „Kriegsveteranen“ über „Massoret“ und „Meshulash“ bis zum „Tanzzirkel mit Mazal Weber“.
Beinahe ebenso selten wie Schiurim oder ähnliches wurde die Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung angeführt, am ehesten noch der Jom Haschoa mit der Namenslesung. „Theoretisch“ interessieren sich 24 Prozent für Gedenkveranstaltungen, bei über 60-Jährigen 30, bei unter 30-Jährigen 17 Prozent (zum Vergleich: „Feiern“ haben 59 Prozent angekreuzt). Fraglich ist, ob andere Werbung oder Gestaltung mehr junges Publikum bringen würde. 30 Prozent aller Befragten wünschen sich mehr „Israel-bezogene Themen“, aber zum Jom Haazmaut gehen dennoch wenige. Hier ist es legitim zu fragen, was an Aufmachung oder Inhalten nicht stimmt, wenn trotz vorhandenem Interesse nur wenige kommen.
Immerhin finden 30 Prozent der Befragten die Qualität der Veranstaltungen verbesserungsbedürftig. Was bedeutet das? Ein wenig Aufschluss geben die Kommentare am Ende des Fragebogens: Die meisten Kritiker sind sich einig, dass es vielen Angeboten von Kulturtagen bis Kulturabteilung an „Niveau“ und „progressivem Denken“ fehlt (allein die Volkshochschule und der Jüdische Kulturverein werden lobend erwähnt). Es wird „Meinungsvielfalt“ vermisst, die Öffnung für „andere Kulturen und Religionen“, bessere „Beziehungen zu Christen und Muslimen“. Dem Zuwandererangebot, z.B. im Mifgasch, wird „Provinzialität“ bescheinigt. Großveranstaltungen wie der Jom Haazmaut seien „unattraktiv“ und „langweilig“, Gedenkfeiern „eingefahren traditionell“. Hier wird nach „neuen Ideen“ und „qualifizierten Organisatoren“ verlangt.
Auch wenn 14 Prozent der Befragten, meist Ältere, (noch) „mehr russischsprachige Veranstaltungen“ wollen (diese Antwortmöglichkeit war gegeben), sind es in den Kommentaren immer wieder die Nichtrussischsprachigen (Israelis, Polen, Deutsche), die das Gefühl äußern, ihre Gruppen oder Belange kommen zu kurz, inhaltlich wie sprachlich. Andere haben keine inhaltlichen Wünsche, sondern wollen niedrigere Eintrittspreise, kinder- und seniorengerechtere Zeiten, bessere Werbung, rechtzeitige Bekanntgabe von Demonstrations- und Veranstaltungsterminen.
Zu den „technischen“ Parametern gehört der Veranstaltungsort: Für 55 Prozent liegt das Gemeindehaus günstiger als die Oranienburger Straße. Letztere ist nur für 9 Prozent besser zu erreichen, 28 Prozent können sich mit beiden Plätzen gut arrangieren. Die Vorliebe für die Fasanenstraße ist plausibel – über die Hälfte aller Mitglieder wohnt in der „City West“. In Mitte und Prenzlauer Berg sind es weniger als 4 Prozent. Das „blühende jüdische Leben im Scheunenviertel“, wie es die Reiseführer verheißen, wird also noch eine Weile mit der Topographie kämpfen müssen. Moniert wird an der Oranienburger Straße auch der erschwerte Zu- und Abgang durch Absperrungen und blockierte Bürgersteige und der Mangel an Parkplätzen.
Trotz günstiger Lage des Gemeindehauses wird das dortige „Internet-Café“ kaum frequentiert: 81 Prozent nutzen es „nie“, 1 Prozent „regelmäßig“, 6 Prozent „selten“. Viele Mitglieder haben Internet zu Hause, zudem herrscht im Internet-Cafe, so ein Kommentar, eine „… Bahnhofsatmosphäre, sehr ungemütlich. Cafe mit internationaler jüdischer Presse und Internet wären ideal und regelmäßige Pianostunde“. Die Bibliothek wird in der Bewertung allgemein gelobt. Sie hat einen guten Ruf als Fachbibliothek, 23 Prozent nutzen sie regelmäßig, 35 Prozent selten. Zu den Stammkunden gehören mehr Frauen als Männer und mehr Zugewanderte als in Deutschland geborene. Ein Grund mag sein, dass die Bibliothek aktuelle israelische und russische Publikationen führt. Fehlt – siehe oben – nur die Caféhaus-Atmosphäre für die Zeitungslektüre.
Ähnlich wie im religiösen Bereich gibt es auf dem Kultursektor grob gerechnet ein „aktives Drittel“ und zwei „passive Drittel“. 33 Prozent besuchen regelmäßig , 59 Prozent „selten“, 4 Prozent „nie“ Veranstaltungen der Gemeinde oder anderer jüdischer Einrichtungen. Während sich die „Kulturmuffel“ gleichmäßig auf alle Altersgruppen verteilen, finden wir jene, die oft jüdische Kulturangebote nutzen, zuerst bei Älteren und Zugewanderten. Die hierzulande geborenen sind wiederum die größeren „Vereinsmeier“. 40 (bei Zugewanderten 34) Prozent sind Mitglied in einem jüdischen Verein oder Klub. Allerdings suchen weniger als 15 Prozent aller ihren Klub regelmäßig auf. Die Logen, WIZO, Makkabi, Achva und der Studentenverband wurden hier am häufigsten genannt. Als Veranstalter waren dies die Jüdische Volkshochschule und der Jüdische Kulturverein, gefolgt von den (eher russischsprachigen) Einrichtungen Treff Hatikwa und Projekt Impuls.
Schauen wir uns nochmal das potentielle Publikum der beiden beliebtesten Veranstaltungstypen – Konzerte und Vorträge – an: Für Konzerte interessieren sich erheblich mehr Frauen als Männer und erheblich mehr in der Sowjetunion (63 Prozent) als in Deutschland geborene (40 Prozent). Letztere gehen lieber zu Vorträgen, genau gesagt 45 Prozent, gegenüber 21 Prozent bei den Ex-Sowjetbürgern. Veranstaltungsorganisatoren müssen bei solch unterschiedlichen Präferenzen schon einen ziemlichen Spagat vollführen, wenn sie Einheimische und Zuwanderer unter einen Hut bekommen oder allgemeine Zufriedenheit herstellen wollen.
So wie hier „Entspannung“ und „Kopfarbeit“ zwei Pole zu bilden scheinen, und das Gemeindevolk u.U. auch spalten, steht die Forderung nach Tradition gegen die nach Modernität. Ein letztes Beispiel: Die Teilnehmer konnten bei der Frage, wovon sie gern mehr hätten unter anderem zwischen „traditionell jüdischem (z.B. Klezmer)“ und „klezmerfreien Zonen“ wählen. 23 Prozent bestanden auf mehr Tradition.12 Prozent wollten „klezmerfreie Zonen“. „Fans und Gegner“ sind gleichmäßig auf beide Geschlechter verteilt. Die „Folkloristen“ sind im Durchschnitt jedoch sehr viel älter als die andere Gruppe, wurden zu 60 Prozent in der Sowjetunion (25 Prozent in Deutschland) geboren und können sich seltener einer religiösen Richtung zuordnen. Tun sie es doch, neigen sie eher zur Orthodoxie, während es unter den „Gegnern“ nur einen Orthodoxen, aber viele Atheisten und „Reformer“ gab. Zuletzt bleiben die „Traditionalisten“ in der Freizeit eher unter sich, während die „Klezmer-Skeptiker“ mehr Kontakte zu ihrer nichtjüdischen Umgebung pflegen (eigentlich ein Paradox, weil ja gerade ihre deutsch-nichtjüdische Umgebung auf Klezmer als vermeintlich bestimmendem Moment jüdischer Kultur „steht“).
Insgesamt ist es bei den gegebenen Quantitäten in mancher Hinsicht vielleicht angemessener von Jüdischer „Kultur- oder Interessengemeinde“ als von „Kultus- oder „Religionsgemeinde“ zu sprechen und zu honorieren, dass die Mitglieder zwei (oder mehr) verschiedenen Welten angehören.

Unterschätzte Jugendarbeit
Mitgliederumfrage Teil III: Jugend & Bildung.


Jüdische Erziehung – Eine absolute Mehrheit von 84 Prozent aller befragten Mitglieder hält eine jüdische Erziehung für »wichtig« oder »ziemlich wichtig«; »unwichtig« nennen sie nur 4 Prozent, der Rest ist sich nicht sicher oder hat keine Meinung. Bei der Teilfrage nach dem Stellenwert einer »jüdischen«, »deutschen«, »russischen« oder »multikulturellen« Erziehung kritisierten einige Teilnehmer zu Recht die verwendeten Begriffe, die eine Vermischung von »Religion« und »Nation« beinhalten, sowie die Fragestellung, die nahelegt, die eine Erziehung würde die andere ausschließen. Die meisten äußerten sich dennoch zu der Frage. Allgemein hohe Zustimmung erfährt die »multikulturelle Erziehung«, vor allem bei Zuwanderern aus der früheren Sowjetunion (60 Prozent); nur 10 Prozent von ihnen halten im übrigen eine »russische« und kein einziger hält eine »deutsche« Erziehung für wichtig.
Aufgaben der Jugendarbeit – Was aber gehört zu einer adäquaten (jüdischen) Erziehung? Nach dem Stellenwert einiger (vorgegebener) Aufgaben befragt, wurde die »soziale/gesellschaftspolitische Erzie-hung« am häufigsten (46 Prozent) als »sehr wichtig« eingestuft, vor allem von aus Deutschland und Drittländern Stammenden. Sie betonen auch die religiöse Erziehung stärker als die in der UdSSR Geborenen (51 zu 23 Prozent). An dritter Stelle in der Wertigkeit steht der Iwritunterricht und an letzter die Freizeit-/Ferienbeschäftigung. Ausgerechnet sie wird jedoch von allen Angeboten am besten beurteilt: 70 Prozent geben ihr gute bis mittlere Noten. Am schlechtesten kommt die – als am wichtigsten eingestufte – »soziale und gesellschaftspolitische Erziehung« weg: Über die Hälfte, die sich zu ihrer Qualität äußern, nennen sie »ungenügend«. Insgesamt bewerten Frauen die Aktivitäten positiver als Männer, Jüngere bewerten sie negativer als Ältere, GUS-Zuwanderer finden alle Angebote (bis auf die Religionserziehung) mit Abstand am schlechtesten.
Weitere Aufgaben, die Teilnehmer notiert haben, sind zusammengefasst: Erziehung zu Zionismus und Israel-Freundschaft, Identitätsstiftung und gemeinschaftsbildende Aktionen, Begegnung mit anderen Kulturen und Religionen, stärkere Orientierung auf ein Leben in Deutschland, Religionserziehung, aber »nicht durch bestimmte Richtungsvorgaben oder Sekten«. Und ein Student warnt: »Die Jugendarbeit wird absolut unterschätzt. In Anbetracht dessen, dass diese Kinder einmal die Gemeinde übernehmen sollen, sehe ich schwarz.«
Jüdische Schulen – Über die Hälfte aller Befragten (56 Prozent) haben ihr Kind auf eine jüdische Schule geschickt oder würden es dort hingeben. 15 Prozent wollen dies nicht, 17 Prozent sind sich nicht sicher. Insgesamt stehen mehr Frauen als Männer den Schulen positiv gegenüber, deutlich mehr junge als ältere Mitglieder und mehr in Deutschland und Drittländern als in der Sowjetunion Geborene. Letztere sind auch am unsichersten, ob sie ein Kind in eine jüdische Schule geben würden.
Zu welchen Bedingungen würden Eltern den Besuch einer jüdischen Schule befürworten? Über ein Drittel konnte hierzu keine Angaben machen. Am häufigsten wurde die Antwort »qualifizierteres Lehrpersonal« angekreuzt – von 46 Prozent aller Befragten, und vor allem von in Deutschland und in Drittländern geborenen. »Mehr jüdische Lehrinhalte« wünschen sich 16 Prozent der Teilnehmer – gleichmäßig über Frauen und Männer sowie die Herkunftsländer verteilt, sind es vor allem junge Leu-te (27 Prozent der bis 30-jährigen, aber nur 11 Prozent der über 60-jährigen), die »mehr jüdische Lehrinhalte« wollen. Es gibt aber auch Mitglieder, die sich dann für eine jüdische Schule entscheiden wür-den, wenn dort »weniger jüdische Lehrinhalte« (!) angeboten würden – nämlich 1 Prozent der hier Geborenen, 7 Prozent der aus der UdSSR und 5 Prozent der aus den Drittländern stammenden Befrag-ten.
Die Schulgebühren halten daneben 15 Prozent für zu hoch, 10 Prozent wünschen sich mehr außerschulische Aktivitäten (überwiegend GUS-Zuwanderer) und 8 Prozent eine andere geografische Lage. Unter »sonstiges« gibt es viele Vorschläge allgemeiner Art (»höheres Niveau«, mehr »Leistungsorientierung und Kompetenz von Lehrern und Erziehern«) oder Konkretisierungen des Wunsches nach »jüdischen Lehrinhalten« durch »mehr Iwrit, Israel, Religion«. Problemlos umsetzbar scheint der Ruf nach besserer Information über die vorhandenen Schulen und Möglichkeiten. Dass etliche Mitglieder tatsächlich nicht gut informiert sind, zeigt der mehrfach geäußerte Wunsch nach koscherer Verpflegung (die in den jüdischen Schulen obligatorisch ist). Die Wünsche nach weiteren Schulen (Haupt-, Gesamt-, Ganztagsschule) und Einrichtungen (»Englischsprachiges«, »Babykrabbelgruppe«) sowie Angeboten »weiter östlich« sind schwerer mit der Realität zu vereinbaren, allein aufgrund der geringen Zahl der Kinder, die für die entsprechenden Einrichtungen in Frage kämen. Uneins sind sich die Mitglieder über die Zusammensetzung des Personals und der Schüler. Etwa zu gleichen Teilen wird nach »mehr« bzw. »weniger« jüdische Lehrern und Schülern verlangt, letzteres um die »interkulturelle Kompetenz« der jüdischen Kinder zu stärken. Überwiegend gut wird außerdem die Grundschule und die KITA beurteilt.
Die Jugendlichen selbst sehen die jüdischen Schulen recht positiv. Weniger als 10 Prozent der hier – über die Eltern/Großeltern – befragten Schüler jüdischer Schulen würden »lieber in eine andere Schule« gehen, aber 28 Prozent der befragten Schüler nichtjüdischer Schulen wären »lieber in einer jüdischen Schule«. Warum sie dort nicht sind, müsste in vertiefenden Interviews mit den Eltern geklärt werden.
Beratungsangebote – 26 Prozent geben an, »keinen Bedarf« an den Schul, Erziehungs- oder Familienberatungsangeboten der Gemeinde zu haben. Nur 7 Prozent waren einmal in einer solchen Beratung und 4 Prozent mehrmals. Die in Deutschland Geborenen nutzen die Angebote am seltensten, die in Drittländern Geborenen am »häufigsten«. Warum werden die Angebote so wenig genutzt? Ist es der Mangel an »Kompetenz und Diskretion«, den einige Befragten befürchtet? Die Antworten auf eine andere entsprechende Frage erhellen einiges: Danach kennen überhaupt nur 27 Prozent der Befragten die Erziehungsberatungsstelle; 4 Prozent nutzen sie. 14 Prozent von denen, die sich zur Qualität der Einrichtung äußern, sind »zufrieden«, 66 Prozent sind unzufrieden, 20 Prozent finden sie »mittelmäßig«. Die Jugendabteilung kennen immerhin 56 Prozent der Befragten; 25 Prozent nutzen sie; 31 Prozent von ihnen sind zufrieden, 33 Prozent sind unzufrieden. Dazwischen liegt die Jugend- und Familienberatung. 31 Prozent kennen sie, 6 Prozent nutzen sie; 27 Prozent der Nutzer sind zufrieden, 43 Prozent unzufrieden. Alles in allem ein wenig schmeichelhaftes Bild der flankierenden Jugendangebote. Sie sind bei zu wenigen Mitgliedern bekannt, noch weniger nutzen sie und zu viele sind unzufrieden mit ihnen.
Ferien- und Freizeit – Und wie sieht es mit der Freizeitgestaltung der jüdischen Jugend aus? 15 Prozent der – hier über ihre Eltern/Großeltern – befragten Jugendlichen nennen die Angebote des Jugendzentrums »gut«, 31 Prozent finden sie »mittelmäßig« und 13 Prozent »schlecht«; die restlichen können die Aktivitäten nicht beurteilen. Weiterhin partizipieren höchstens die Hälfte der Familien mit Kindern am Machané-Angebot: 50 Prozent waren noch nie, 13 Prozent einmal, 37 Prozent mehrmals auf einer Machané. Kinder von GUS-Zuwanderern fahren am seltensten (11 Prozent einmal, 29 Prozent mehrfach) und Kinder von in Deutschland geborenen Mitgliedern am häufigsten (7 Prozent einmal, 42 Prozent mehrfach). Außerdem scheint ein Zusammenhang zwischen der Mitgliedschaft in einer jüdischen Jugendorganisation/-gruppe und der Machané-Teilnahme zu bestehen: Drei Viertel aller, die Mitglied einer solchen Gruppe sind, waren auch schon mal auf einer Machané, aber weniger als ein Viertel jener, die keinem jüdischen Verein angehören. Insgesamt werdendie Ferienreisen gut beurteilt: Ein Drittel der Antworter finden sie »optimal«. 47 Prozent meinen daher auch, es gibt »zu wenig« solcher Reisen, für 21 Prozent (vor allem junge Leute) sind sie »zu teuer«. Alle Kriterien zusammenge-nommen, sind die GUS-Zuwanderer am unzufriedensten mit den Machanot und die aus den »Drittländern« am zufriedensten; die Einheimischen liegen dazwischen.
Fazit einer Teilnehmerin: »Die Gemeinde hat in der letzten Zeit dankenswerter Weise viel für Senioren gemacht. Nun finde ich, ist die Jugend dran. Langweilige, wenig anspruchvolle Angebote im Jugendzentrum, wenig Freizeitangebote und kaum Chancen auf einen Machané-Platz treibt unsere Jugend auf die Straße. Da muss was gemacht werden!«

Exkurs: Eltern und Kinder: Beinflusst das Verhalten der Eltern die Kinder?
Ob es einen Zusammenhang zwischen Verhaltensweisen oder Ansichten der Eltern und der Kinder gibt, läßt sich schwer nachweisen. In jedem Fall ist beispielsweise die Mitgliedsquote in jüdischen Or-ganisationen bei Kindern, deren Eltern früher selbst in einer jüdischen Organisation waren, viel höher (36 Prozent) als bei Kindern, deren Eltern keiner solchen Vereinigung angehörten (20 Prozent). Die Teilnehmer sollten jedoch auch zu anderen Punkten ihren Nachwuchs befragen. Die Ergebnisse sprechen gegen eine stärkere Loslösung vom jüdischen Umfeld bei der jungen im Vergleich zur Eltern-Generation: Fast die Hälfte der antwortenden Jugendlichen finden einen jüdischen Freundeskreis wichtig und ebenso viele hätten später gern einen jüdischen Partner (34 Prozent wissen es »noch nicht«). Bei den Eltern waren es nur wenig mehr, die einen jüdischen Partner für ihr Kind bevorzugen würden.
58 Prozent der Jugendlichen denken ferner, dass sie »später Mitglied der Jüdischen Gemeinde bleiben« werden, nur für 6 Prozent ist schon klar, dass sie austreten wollen und 36 Prozent sind noch nicht si-cher. Weiterhin würden 58 Prozent aus der »nächsten Generation« einen Sohn beschneiden lassen. Auch hier ist die Zustimmung bei den Eltern nicht wesentlich höher. Allerdings sind deutlich mehr Kinder (33 Prozent) als Eltern (12 Prozent) unentschieden. Sehr ähnlich gewichtet sind die Antworten auf andere Fragen: Neben den 49 Prozent, die schon wissen, dass sie ihr Kind auf eine jüdische Schule schicken würden, können 43 Prozent der »Nachkommen« dies »(noch) nicht sagen«.
Die Antworten des Nachwuchses insgesamt betrachtet, sind in jedem Fall hoffnungsvolle Mehrheiten zu erkennen, die sich in der Zukunft potentiell in die Jüdische Gemeinde einbringen könnten. Allerdings passiert dies nicht von selbst, und vor allem können die vielen, die sich noch nicht sicher sind, der Gemeinde leicht wieder verloren gehen.


Gemeinde als Dienstleistungsbehörde?
Mitgliederumfrage Teil IV: Soziales & Senioren.


Nicht einmal 30 Prozent der Befragten wissen sicher, an wen sie sich in der Gemeinde wenden könnten, wenn sie »morgen ein Problem hätten«, 19 Prozent wissen es nicht und über ein Drittel sind sich unsicher. Weitere 14 Prozent lehnen es apriori ab, sich an die Gemeinde zu wenden, und zwar vorwiegend Jüngere und nicht in der UdSSR Geborene. Generell fühlen sich 29 Prozent der befragten Mitglieder bei der Lösung ihrer Probleme nicht genügend unterstützt. 8 Prozent fühlen sich »ja« und 23 Prozent »manchmal« unterstützt. Der »Rest« von 40 Prozent kann diese Frage nicht beantworten.
31 Prozent der Befragten sagen aus, »noch nie« eine Gemeindedienstleistung in Anspruch genommen zu haben. 20 Prozent hätten sie »einmal«, 37 Prozent »ab und zu« und 3 Prozent »oft« genutzt (Männer mehr als Frauen, Ältere mehr als Jüngere, Zuwanderer mehr als andere). Über die Hälfte aller hätte sich demnach nie oder nur ein einziges Mal einer Gemeindedienstleistung bedient. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass einige Dienstleistungen gar nicht als solche wahrgenommen werden. Denn mehr als die Hälfte derer, die vermeintlich noch nie etwas beansprucht haben, geben an anderer Stelle an, Beratungsangebote zu nutzen oder/und bei Reisen dabei gewesen zu sein. Insgesamt fuhren knapp ein Drittel der Befragten schon ein oder mehrmals bei einer Gemeindereise mit – dies waren vor allem unter 30jährige (44 Prozent) und über 60-jährige, sowie GUS-Zuwanderer (37 Prozent). Hierbei dürfte es sich vor allem um Machanot, ZWST-Seniorenreisen und Integrationsseminare handeln.
Etwa ein Viertel der befragten Mitglieder würde im Alter in ein jüdisches Seniorenheim ziehen, knapp ein Drittel weiß es noch nicht, und ein weiteres Drittel knüpft eine »sehr gute Ausstattung« an diese Entscheidung. Es wollen deutlich weniger GUS-Zuwanderer als hier Geborene in ein jüdisches Heim (obwohl heute überwiegend Zuwanderer dort wohnen). Dafür ist die Ausstattungsfrage für die Zuwanderer weniger wichtig als für die Einheimischen.
37 Prozent der Befragten (überwiegend Einheimische) haben das bestehende jüdische Seniorenzentrum schon mal in Augenschein genommen. Von ihnen hat etwas über die Hälfte einen positiven Eindruck und die andere knappe Hälfte einen negativen. Am schlechtesten kommt das Seniorenzentrum bei den aus Drittländern Stammenden und bei Jüngeren weg. Den Älteren selbst gefällt es am besten.
11 Prozent der Befragten – vor allem junge Leute und Einheimische – meinen, dass die Gemeinde keine weiteren Beratungsangebote braucht. GUS-Zuwanderer verstehen die Gemeinde hingegen eher als Dienstleistungsbetrieb und haben meist mehrere Optionen angekreuzt. Insgesamt am häufigsten wird ein Ausbau der Sozial- und Rechtsberatung gewünscht (54 Prozent der GUS-Zuwanderer, 16 Prozent der Einheimischen), gefolgt von Berufs- und Arbeitsberatung sowie Renten- und Entschädigungsbera-tung (39 Prozent Zuwanderer, 15 Prozent Einheimische; die Drittländer liegen jeweils dazwischen). Angebote für Behinderte, Pflegebedürftige, Trauernde und deren Angehörige wollen 22 Prozent, 13 Prozent wünschen sich Kurse zur Erhöhung ihrer Arbeitsmarktchancen und 7 Prozent eine Suchtbera-tung. Außerdem wird angeregt: psychologische Beratung für Schoa-Opfer, Wohnungssuche für Neu-berliner, allgemeine Seelsorge, Ansprechpartner bezüglich Antisemitismus, Studienberatung, Briefkasten für Vorschläge an die Gemeinde, Treffangebote für jüdische Schwule, Lesben etc.
Die größten Defizite empfinden ganz offensichtlich die GUS-Zuwanderer im gesamten Sozial-, Arbeits-, Rechts-, Renten- und Einkommensbereich, während die Sorgen der Einheimischen vor allem den Job betreffen. Einige Wünsche tangieren wiederum spezielle Minderheiten, die eventuell auch anderweitig bedient werden können. Eine Herz-Sport-Gruppe oder eine Diabetesberatung muss nicht zwingend jüdisch sein. Andere Dienste, zum Beispiel Beratungen für Depressivkranke sind nur von Spezialisten zu leisten. Manche der angeregten Angebote gibt es jedoch bereits – die Alija-Beratung, Deutschkurse, Sozialberatung, Jobbörse… Zu klären wäre, ob die Mitglieder nicht korrekt über sie informiert sind, nicht in der Lage sind, vorhandene Informationen einzuordnen, das jeweilige Angebot als quantitativ nicht ausreichend oder qualitativ nicht befriedigend empfinden oder ob eventuell auch mancher Wunsch ohne größeres Nachdenken aufgelistet wurde.
Dass diese Fragen wichtig sind, wird deutlich, wenn wir den Bekanntheits- und Nutzungsgrad der Einrichtungen betrachten. Die Teilnehmer sollten 16 verschiedene Dienstleistungsangebote bewerten. Die Pförtner/Telefonauskunft, die Steuerabteilung und die Sozialberatung sind die Einrichtungen, die am meisten gekannt und auch frequentiert werden (die Sozialabteilung von den Zuwanderern, die Steuerabteilung von den Einheimischen). Als am wenigsten bekannt und genutzt erwiesen sich die Stelle »Rund um’s Alter«, die Selbsthilfegruppen und die Erziehungsberatung. Wenig genutzt werden außer-dem das Integrationsbüro und der Ambulante Pflegedienst. Letzteres beispielsweise kennen überhaupt nur 12 Prozent der über 60jährigen. Insgesamt kann also sehr wohl ein Zusammenhang zwischen dem (niedrigen) Bekanntheits- und Nutzungsgrad und dem (lauten) Ruf nach Zusatzangeboten bestehen.
Ein Blick auf die Zufriedenheit der Mitglieder mit den Angeboten verstärkt den Eindruck. Mit den Pförtnern/Telefonauskünften sind 40 Prozent unzufrieden, 32 Prozent »mittelmäßig« und 28 Prozent zufrieden. Diese Auskünfte werden am häufigsten von hier Geborenen genutzt; sie monieren auch am häufigsten mangelnde Deutschkenntnisse bei den Mitarbeitern. Die meisten unzufriedenen Nutzer (ü-berwiegend Zuwanderer) hat jedoch die Jobbörse (75 Prozent), gefolgt vom Integrationsbüro (59) und den Sprechstunden von RV- oder Vorstandsmitgliedern (52). Die meisten zufriedenen Nutzer wiederum gibt es bei Seminaren (43 Prozent), der Sozialberatung (40) sowie der Jugendabteilung (31). Wenn also Zusätzliches gefordert wird, kann es durchaus an der als mittelmäßig bis schlecht wahrgenomme-nen Qualität der bestehenden Angebote liegen, partiell aber auch an überhöhten Erwartungen der Nutzer.
Nach den persönlichen Wunscheinrichtungen befragt, wurden am meisten Erholungs- und Bildungsreisen sowie Treffmöglichkeiten aller Art für Erwachsene (vor allem für »Mittelalter«) vermisst. An zweiter Stelle stehen Partnervermittlung, Freizeitprogramme für Ältere sowie »Patenschaften Jüngerer für Ältere und umgekehrt«. Letztere wollen zwar viele Ältere und »Mittelalter«, nicht aber die dazu notwendigen Partner, nämlich die Jungen (nur 3 Prozent) – ein typisches »Generationen-Ergebnis«, das solche Ideen leider undurchführbar macht. Treffs, Patenschaften, Selbsthilfegruppen (d.h. mehr Eigenverantwortlichkeit und -initiative) vermissen überwiegend die im Inland oder in Drittländern Geborenen. Hilfe für Ältere, Angebote in der Muttersprache, Aktivierungsprogramme, Sport und Reisen sind überwiegend GUS-Zuwanderer-Wünsche.
In der Rubrik »Was ich schon immer sagen wollte« werden unter anderem die Gemeindeleitung oder einzelne Abteilungen »angeprangert«: man helfe nicht bei der Arbeitsbeschaffung, andere wünschen sich eine »grundsätzliche Diskussion über das Gemeindesteuersystem« oder dass die Gemeinde »ihre Pflicht« erkenne und dafür sorge, dass »alle Mitglieder ins Heilige Land fahren« können. Aus vielen Einträgen – vor allem älterer Mitglieder – spricht jedoch Einsamkeit und der Mangel an »menschlichen Kontakten«. In diesem Zusammenhang werden Einzelpersonen für »ihre Wärme« gelobt, so die Familie Bairamow aus der Oranienburger Straße, die Bibliotheksangestellten im Gemeindehaus, die Kultusabteilung und einige ehrenamtliche Helfer.
Ehrenamtlich bereits tätig in der Gemeinde sind – nach eigenen Angaben – 19 Prozent der Befragten. 13 Prozent geben an, sich »eher nicht« und 7 Prozent sicher »nicht« ehrenamtlich engagieren zu wollen. 16 Prozent können »nicht sagen«, ob sie ehrenamtlich arbeiten würden oder geben keine Antwort. 28 Prozent nennen Zeitmangel und 17 Prozent ihre Gesundheit als Hinderungsgründe für ein Ehrenamt. An fehlender Anerkennung muß das Desinteresse nicht unbedingt liegen, denn fast zwei Drittel können nach eigener Angabe nicht einmal beurteilen, ob ehrenamtliches Engagement in der Gemein-de ausreichend anerkannt wird (über ein Viertel aller meinen allerdings, es würde nicht genügend anerkannt). Passive Haltungen sind bei den GUS-Zuwandern am höchsten; am niedrigsten sind sie bei den Mitgliedern, die in »Drittländern« geboren wurden. Am Alter gemessen sind es die Jungen, die am wenigsten Engagement zeigen; je älter um so mehr (theoretische und praktische) Bereitschaft zum Volontarimus besteht.
Gemessen an den viele Mitgliedern, die von »der Gemeinde« mehr Einsatz erwarten, sind es recht wenige, die sich selbst engagieren. Noch fragwürdiger wird es, wenn Mitglieder, die es ablehnen, selbst ehrenamtlich tätig zu werden, an anderer Stelle ankreuzen, in der Gemeinde müsste es mehr ehrenamtliche Hilfe oder gegenseitige Patenschaften geben. Die diversen Fragen zu sozialen Themen und zur Eigenaktivität zusammengenommen, ist eine starke Konsumhaltung zu beobachten – engagieren sollen sich jeweils die anderen oder »die« Gemeinde.

Angekratztes Image
Gemeindeumfrage Teil V: Kommunikation & Öffentlichkeit.


Die Umfrage sollte auch Details der in- und externen Kommunikation sowie der Selbst- und Außenwahrnehmung der Gemeinde bzw. ihrer Mitglieder erfassen.
Öffentlichkeit. Die Mitglieder sollten die Präsenz der Jüdischen Gemeinschaft in der Öffentlichkeit einschätzen. 36 % finden, sie sei »ausreichend« präsent. Diese Ansicht vertreten vor allem Frauen, Einheimische und Mitglieder mittleren Alters. 43 % (besonders junge Leute) finden, die Gemeinde melde sich »zu selten« zu Wort, 4 % meinen dagegen, sie melde sich »zu oft«. Die Kommentare zu diesem Thema haben fast alle den Tenor, die Gemeinde solle sich öffentlich »stärker, häufiger, qualifizierter, lauter, mehr, schärfer, klüger, selbstbewusster…« äußern. Vor allem müsse sie Israel  nd andere Minoritäten unterstützen, sowie zum Antisemitismus Stellung nehmen.
Das Bild der Jüdischen Gemeinde in der Öffentlichkeit halten 13 % der Befragten für »ausgewogen«. 12 % glauben, die Gemeinde würde »wohlwollend« betrachtet, 4 % empfinden ihr Bild »übertrieben positiv« dargestellt. Ein knappes Drittel (32 %) glaubt das Gegenteil: die Gemeinde habe ein »eher negatives« Bild und weitere 18 % meinen sogar, sie wäre in der Öffentlichkeit »nur bei negativen Schlag-zeilen präsent«. Die Hälfte aller – besonders junge sowie hierzulande und in Drittländern geborene Mitglieder – sind also der Ansicht, die Gemeinde habe ein negatives öffentliches Bild. Die Gründe dafür werden aber auch intern gesucht: »das oberpeinliche Babel-TV«, das »Waschen schmutziger Wäsche« oder das Herzeigen von »Finanzskandalen« seien »äußerst schädlich« für das Gemeinde-Image.
Information. »Ausreichend (gut, ausgewogen) informiert« über Gemeindegeschehnisse« fühlen sich über ein Viertel der Befragten (26 %). 15 % meinen »zu einseitig« und immerhin 42 % »zu wenig« informiert zu sein, vor allem Ältere und aus der Sowjetunion Stammende. Andererseits waren genauso viele, nämlich 42 % aller Befragten (vor allem GUS-Zuwanderer und Jüngere) noch nie bei einer Gemeindeversammlung, um sich selbst zu informieren.
Das Mitgliedermagazin »jüdisches berlin«, als »Info-Output« der Gemeinde gefällt 45 % der Befragten »gut«, 40 % finden es »mittelmäßig«, 7 % »schlecht«. Bei Jüngeren, Frauen und Einheimischen kommt es deutlich besser an als bei Älteren, Männern und GUS-Zuwanderern. »Totalverrisse« wie »ist primitiv; alles ist schlecht; man muss alles ganz anders machen« stammen ausschließlich von russischsprachigen Lesern, ohne dass die Mängel konkret benannt würden. Von Deutschsprachigen werden vor allem die Aktivitätenseiten als »journalistisch entwicklungsbedürftig« und die Integrationsseiten als »sozialistische Parteitagslyrik« disqualifiziert. Außerdem sollte »egomanen Machtkämpfen« von Reprä-sentanten kein Platz eingeräumt werden und »mehr Sachlichkeit« herrschen. Eindeutige Präferenzen, worüber die Mitglieder gern mehr lesen würden, sind nicht erkennbar. Im Durchschnitt will man »von allem mehr«, besonders von Berlin bezogenem, Gemeinde-Interna, Kultur, Israel, Gesellschaft. Außerdem werden verstärkt Jugend- und interkulturelle Themen nachgefragt sowie »Vermischtes« (Essen, Quiz, Heiratsmarkt, Geschichten, Memoiren, Humor, Sport, Gesundheit). 16 % der Befragten wollen mehr, 27 % weniger Russisch im »jb«. Der Sprachstreit beherrscht auch die Kommentare: Israelis monieren: »weder bei Veranstaltungen noch im jb kommt Iwrit vor«. Andere verwirrt der gemischt deutsch-russische Druck; sie wünschen sich eine einsprachige, »wahlweise deutsche oder russische«, Zeitung oder finden es »an der Zeit und integrationsförderlich, nur noch Deutsch« zu erscheinen. Andere wollen »alles in Russisch« haben und die Mehrkosten durch »dünneres Papier« decken.
Sicherheit. Weit über die Hälfte (56 %) der Befragten fühlen sich in den jüdischen Einrichtungen »gut beschützt« – Frauen mehr als Männer und Junge mehr als Alte. »Unzureichend« geschützt fühlen sich 13 % – in erster Line GUS-Zuwanderer. »Übertrieben« beschützt sehen sich fast genauso viele Befragte (12 %), vor allem junge Mitglieder, in Drittländern Geborene und Einheimische. Zusammen genommen fühlen sich Mitglieder aus der Ex-Sowjetunion sehr viel weniger sicher und geschützt als andere.
10 % der Befragten lassen sich durch »Sicherheitsmaßnahmen bzw. die Präsenz der Sicherheitskräfte vom Besuch der Gemeindeeinrichtungen abschrecken«, überwiegend GUS-Zuwanderer und (erstaunlicher Weise) junge Leute. 61 % lassen sich hingegen nicht abschrecken und 22 % sagen sogar: »im Gegenteil – gerade weil die Sicherheit da ist, besuchen wir die Einrichtungen« – dieser Ansicht sind be-sonders viele in Drittländern Geborene, vor allem Israelis. Im Großen und Ganzen liegt es wohl weniger an Sicherheits- und Kontrollfragen, wenn Leute der Gemeinde fernbleiben, obwohl einige darauf hinweisen, dass sie »aus Angst vor terroristischen Akten« jüdische Veranstaltungen neuerdings mei-den.
Verkehrskreise. 43 % der Befragten kennen persönlich 11 bis 50 Gemeindemitglieder. 27 % kennen so-gar über 50 andere Mitglieder. 10 % kennen bis zu fünf und 16 % bis zu zehn andere Mitglieder. 1 % kennen gar niemanden und 2 % antworten nicht. Unter denen, die viele Mitglieder kennen, sind vor allem Leute mittleren Alters und solche aus »Drittländern«. Die GUS-Zuwanderer haben im Schnitt etwas weniger Bekannte als die andernorts geborenen und Frauen etwas weniger als Männer.
Diejenigen mit den meisten Bekannten in der Gemeinde sind im Durchschnitt auch die, die ihre Freizeit mehr mit jüdischen als mit nichtjüdischen Freunden verbringen. Umgekehrt sind die Befragten mit den wenigsten Gemeindebeziehungen auch die, die überwiegend mit Nichtjuden zusammen sind. Insgesamt verbringen gut die Hälfte der Befragten ihre Freizeit »mit Juden und Nichtjuden gleichermaßen«. Knapp ein Drittel (mehr Männer als Frauen) verbringt sie überwiegend mit jüdischen und 10 % mit nichtjüdischen Freunden. Die 30- bis 60jährigen sind diejenigen, die am integriertesten in bei-den »Systemen« scheinen: 60 % von ihnen verbringen ihre Freizeit mit Juden und Nichtjuden, bei den unter 30jährigen sind es nur 37 %, bei den über 60jährigen 46 %. Junge und Alte sind dafür viel mehr als die mittlere Generation meist mit Juden zusammen. Es gibt aber einen anderen Teil der jungen Ge-neration (15 %), der in erster Linie mit Nichtjuden zusammen ist. Vor allem GUS-Zuwanderer verbringen ihre Freizeit vorwiegend mit Juden (44 % zu 23 % der Einheimischen und 27 % der aus  Drittländern), wobei wohl weniger das Jüdischsein eine Rolle spielt, als der Umstand, dass es sich bei den Freunden meist ebenfalls um Migranten und Landsleute handelt. Die GUS-Zuwanderer haben so auch den wenigsten Kontakt mit Nichtjuden (6 %), wobei dies wieder eher damit zu tun haben dürfte, dass diese »Nichtjuden« an erster Stelle Deutschsprachige und Einheimische sind.
Mitglieder – Mitarbeiter. Etliche Befragte weisen darauf hin, dass das Verhalten der Gemeindemitarbeiter nicht generalisierbar und von Abteilung zu Abteilung, von Mitarbeiter zu Mitarbeiter verschieden ist. Dennoch gibt es Trends: 16 % der Befragten empfinden die Gemeindemitarbeiter als »unfreundlich«, doppelt so viele finden sie wiederum »freundlich« – am häufigsten in Deutschland geborene und ältere Mitglieder. Nur 2 % halten die Gemeindemitarbeiter für »unbürokratisch«, 22 % halten sie im Gegenteil für »bürokratisch«, und zwar überwiegend GUS-Zuwanderer. 5 % der Befragten finden die Mitarbeiter »ablehnend« und 15 % finden sie »hilfsbereit«. 18 % der Befragten halten das Verhalten der Gemeindeangestellten für »arrogant« – hauptsächlich Jüngere sowie in der UdSSR und in Drittländern Geborene. »Kompetent« finden 9 % die Mitarbeiter, und 11 % finden sie »inkom-petent« (vor allem Junge – 22 %!). Nimmt man alle Parameter zusammen, überwiegen die negativen, wobei die Mitarbeiter von den GUS-Zuwanderern um etliches schlechter beurteilt werden als von den Einheimischen (die Werte der in »Drittländern« Geborenen liegen dazwischen). Während die Einheimischen allgemein vor allem Unfreundlichkeit bemängeln sowie fehlende Qualifikationen und Deutschkenntnisse, beklagen die »Russen« vor allem Arroganz und Bürokratie. Zum Verhalten der Mitarbeiter und Repräsentanten gab es auch die meisten negativen Zusatzkommentare. Allerdings werfen sich »Deutsche«, »Israelis« und »Russen« gegenseitig genau die gleichen Dinge vor, auch wenn quantitativ die meiste Kritik von Russischsprachigen kommt. Da deutlich mehr als die Hälfte der Gemeindemitarbeiter inzwischen aus dem GUS-Zuwandererkreis stammt, dürfte sie sich jedoch eigentlich nicht auf Nationalitäten (»Russen«/»Nichtrussen«) beziehen, sondern bestenfalls auf »Langansässige« und »Zuletztgekommene«.

Mitgliedsgründe. Wir wollten auch wissen, warum jemand (bei soviel Kritik) überhaupt Gemeindemitglied ist. Die am häufigsten – vor allem von Älteren – gewählte Antwort (66 %) lautet »weil es für mich als Jude/in selbstverständlich ist«. An zweiter Stelle lagen mit je 31 % die Antworten »weil ich meine Zugehörigkeit demonstrieren will« und »weil ich jüdisch beerdigt werden möchte«. Die Zugehörigkeit zu zeigen finden überwiegend Männer und Einheimische wichtig, jüdisch beerdigt zu werden ist für Männer und Frauen sowie in Deutschland und der UdSSR Geborene gleichermaßen relevant, am wichtigsten jedoch für die älteren Mitglieder. Mit 22 % am nächst häufigsten wurde angekreuzt »weil ich mich sicherer fühle« – dies zuallererst von Älteren und in der Sowjetunion geborenen. Gleich darauf (mit 21 %) folgt: »weil meine Eltern mich bei der Geburt angemeldet haben« – er betrifft in erster Linie Junge sowie in Deutschland Geborene. Junge, einheimische sowie in Drittländern geborene Mitglieder sind es auch, die am häufigsten Religiosität als Mitgliedsgrund angeben (insgesamt 17 %). An vorletzter Stelle kommt mit 15 % »weil meine Verwandten/ Bekannten auch Mitglied sind« – diese »Sogwirkung« tritt am wenigsten bei Einheimischen und mit Abstand am häufigsten bei GUS-Zuwanderern (26 %) auf. Als letztes nennen 11 % (hauptsächlich Männer, Ältere und GUS-Zuwanderer): »weil ich mir Hilfe erhoffe«. Handschriftlich ergänzt wurden darüber hinaus meist pragmatische Gründe: »…weil mein Kind in die jüdische Schule gehen soll, weil ich Mitarbeiter bin, weil ich in anders nicht in Deutschland bleiben konnte«. Einige meinten aber auch: »weil es nach der Schoa gar nicht anders geht« oder »weil man nach dem Holocaust nicht austreten kann«.

Diverse Gemeindeveranstaltungen. Fotos: Schmidt, Simon, Kessler»Umfrage 2002« - 1»Umfrage 2002« - 2»Umfrage 2002« - 3»Umfrage 2002« - 4»Umfrage 2002« - 5»Umfrage 2002« - 6»Umfrage 2002« - 7

Ein hoffnungsloser Fall?
Gemeindeumfrage Teil VI: Resümee & Ausblic
k

Die Berliner »Umfrage 2002« war die erste Umfrage dieser Art in einer bundesdeutschen Jüdischen Gemeinde. Um die Bereitschaft der Mitglieder nicht zu überfordern, beschränkte sie sich auf 65 Fragen aus den Bereichen Religion/Kultus, Jugend/Bildung, Soziales/Senioren und Kultur/ Kommunikation. Sie sollten zum einen Interna klären (wie etwa bestimmte Gemeindeeinrichtungen von den Mitgliedern bewertet werden) und zum anderen einige Details zum heutigen Selbstverständnis in Berlin/Deutschland lebender Juden.
Große Überraschungen gab es dabei nicht. Es ist eher so, dass zahlreiche Alltagserfahrungen aus dem Umfeld der Jüdischen Gemeinde(n) durch die Ergebnisse verifiziert und quantifiziert wurden. Beide Elemente der »Software«, die Einschätzung der Gemeinde und die Selbsteinschätzung der Mitglieder, lassen jedoch keinen Zweifel daran, daß die »Hardware« der Berliner Gemeinde einer Strukturanalyse und -reform bedarf.
Aufschlussreich war zudem, wie stark Wahrnehmungen und Meinungen von Mitgliedern unterschiedlicher Herkunft voneinander abweichen. Solche Unterschiede herauszufiltern war jedoch nicht die primäre Aufgabe der Untersuchung. Die Umfrage ist für mögliche weitere Auswertungen jedoch offen – es können im Nachhinein andere als die bereits betrachteten Aspekte untersucht werden. Gedacht ist neben solchen Herkunfts-, auch an Geschlechts-, Berufs- oder Altersspezifika.
Die Stichprobe ist demografisch repräsentativ für die (partizipationsbereiten) Mitglieder der Gemeinde. Ungeachtet dessen enttäuscht die insgesamt geringe Resonanz (bei 7,1 % der Haushalte); sie illustriert jedoch die allgemeine Befindlichkeit: das Gros der Mitglieder steht dem Gemeindegeschehen gleichgültig, zum Teil auch resigniert gegenüber.
Zu den wichtigsten Ergebnissen: Die Umfrage zeigt, dass ein erheblicher Teil der Mitglieder religiöse Traditionen skeptisch betrachtet oder sich nicht (mehr) religiös definiert: 12 % sind Atheisten, 16 % wissen sich nicht einzuordnen oder gehören »keiner« Richtung an. Die größte Gruppe gehört zum »liberalen« Judentum (29 %), die kleinste zur Orthodoxie (8 %). Die partielle Loslösung von der Religion geschieht nicht plötzlich: fast 80 % der Befragten kommen aus  nicht- oder etwas religiösen Familien. In der Konsequenz würden auch »nur« 66 % der Befragten einen Sohn definitiv beschneiden lassen, 60 % einer Bar/Bat Mizwa eindeutig zustimmen, 27 % mehr Geld für koschere als für herkömmliche Lebensmittel ausgeben. Über ein Drittel gehen allerdings – nach eigenen Angaben – regelmäßig in die Synagoge; fast ebenso viele besuchen sie jedoch nur »zu den Hohen Feiertagen« oder »einmal im Jahr« und mehr als ein Viertel »sehr selten« oder »nie«. »Tradition« ist der häufigste Grund für den Synago-genbesuch, immerhin ein Drittel wollen dort aber auch ihren »Glauben praktizieren«. Religiosität als Mitgliedsgrund geben jedoch nur halb soviele Befragte an. Meist geht es eher um Normverhalten oder Pragmatismus als um explizite Überzeugungen: Sehr viele sind Mitglied, weil es für sie »als Jude/in selbstverständlich« ist, andere wollen ihre »Zugehörigkeit demonstrieren« oder »jüdisch beerdigt werden«, fühlen sich »sicherer« oder wurden von den »Eltern angemeldet«, sind Mitglieder, »weil Verwandte/Bekannte« es auch sind oder sie »Hilfe erhoffen«. Aber auch soziale Bezugspunkte können für eine Mitgliedschaft bestimmend sein: So kennen immerhin 43 % der Befragten persönlich jeweils 11 bis 50 andere Mitglieder, 27 % kennen sogar mehr.
Trotz aller Säkularisierung wäre für 53 % der Befragten ein jüdischer Partner für ihr Kind wichtig. Die Aufweichung der religiösen Bindungen beeinflusst die Haltungen in Bezug auf die Partnerwahl offenbar wenig. Das scheint auch für die »letzte Ruhe« zu gelten: Fast 80 % der Befragten – darunter ein Drittel der Atheisten und über die Hälfte der »Richtungslosen« – will auf einem jüdischen Friedhof be-erdigt werden. Und abweichend von der individuellen Einstellung sehen mehr als die Hälfte die Ge-meinde auch als Religionsträgerin und finden die religiöse Erziehung der Jugend wichtig. Die jungen Mitglieder selbst vertreten im Übrigen häufiger als andere Altersgruppen orthodoxe »gesetzestreue« Positionen und äußern sich zugleich häufiger eher verunsichert (»kann ich nicht sagen«) als ablehnend – hier dürften die stärksten Interventionsmöglichkeiten der Gemeinde liegen.
Bei der Einschätzung der Institution Jüdische Gemeinde auf dem Kultussektor werden vor allem interessante, jugendgerechte und realitätsbezogene Predigten, Mitbestimmungsmöglichkeiten sowie seel-sorgerisches Engagement der Rabbiner vermisst. Das Spektrum der individuellen Wünsche ist sehr breit gefächert und heterogen bis kontrovers. Richtungsübergreifend sind Forderungen nach »gegenseitigem Respekt« der religiösen Richtungen oder »weniger Bürokratie«.
Eine große Mehrheit der Befragten findet eine jüdische Erziehung wichtig, wobei darunter vor allem eine fundierte »soziale/gesellschaftspolitische Erziehung« verstanden wird. Religion steht erst an zweiter, Iwrit-Unterricht und Freizeitbeschäftigung an dritter und vierte Stelle. Allerdings wird ausgerechnet die Qualität der sozial-gesellschaftlichen Erziehung am schlechtesten und die Freizeit/Ferienbetreuung – vergleichsweise – am besten beurteilt. In der Jugendarbeit vermisst werden besonders eine »identitätsstiftende und gemeinschaftsbildende Erziehung«. Trotz der Kritik haben über die Hälfte der Befragten ihr Kind auf eine Jüdische Schule geschickt oder würden es dort hingeben. Die anderen würden dies jedoch nur dann tun, wenn es dort vor allem qualifizierteres Lehrpersonal und mehr jüdische Lehrinhalte gäbe. Die Jugendlichen selbst sehen die Schulen recht positiv. Unter 10 % der befragten Schüler jüdischer Schulen würden »lieber in eine andere Schule« gehen, aber 28 % der Befragten aus nichtjüdischen Schulen wären »lieber in einer jüdischen Schule«.
Auch hier kann interveniert werden – möglicherweise durch stärkere Einbindung in die jüdischen Jugendorganisationen, in denen bislang nur ein Viertel der befragten Jugendlichen Mitglied sind. Dennoch wollen fast zwei Drittel später ihr Kind jüdisch erziehen und beinahe die Hälfte wollen es in eine jüdische Schule schicken; der jeweils andere Teil ist sich noch nicht sicher über diese Fragen. Hier liegen Potenziale verborgen, die sich in der Zukunft in die Gemeinde einbringen könnten, wenn – das ist die Voraussetzung – die vorhandenen Orientierungsdefizite (und die Jugendlichen selbst) ernster genommen würden.
Die Jugendberatungsangebote als Interventionsinstrument verfehlen nach Auskunft der Befragten bislang jedenfalls ihr Ziel: Gerade einmal 11 % der Befragten haben ein- oder mehrmals eines der Erziehungs-, Schul- oder Familienberatungsangebote der Gemeinde genutzt. Das verwundert nicht, wenn jeweils zwischen einem Viertel und der Hälfte aller Befragten aussagen, diese Angebote überhaupt nicht zu kennen und sich je nach Einrichtung bis zu zwei Drittel unzufrieden mit ihnen äußern. Nur an den Ferienreisen/Machanot wird relativ wenig kritisiert (außer, dass es noch zu wenig davon gibt).
Der Bekanntheits- und Nutzungsgrad der Dienstleistungsangebote jenseits des Jugendbereichs (z.B. Ambulante Pflege, Integrationsbüro) sieht nicht besser aus und nicht einmal 30 % der Befragten wis-sen, an wen sie sich wenden könnten, wenn sie ein Problem haben. Gleiches gilt für die Zufriedenheit mit den Angeboten. Sie ist vor allem in Bereichen niedrig, an die (vermutlich) die höchsten Erwartungen geknüpft werden, weil sie relevante Defizite der Mitglieder betreffen (Aufenthalt, Arbeit, Rente) oder wo knappe Ressourcen zu vergeben sind (Machanot, Jobs, Räume). Wenn also Zusatzangebote gefordert werden, kann das an der als mittelmäßig bis schlecht wahrgenommenen Qualität des Vor-handenen liegen, aber auch am Anspruchsniveau der Nutzer.
Nicht immer lassen sich die Wünsche als vernünftig bezeichnen – wenn ohne Rücksicht auf irgendwelche Realitäten (z.B. finanzieller Art) »von allem« einfach »mehr« gefordert wird oder allein persön-liche Interessen im Blickfeld stehen. So wird die Einstellung von mehr Russischsprachlern verlangt, obwohl Mitglieder und Behördenangestellte bereits jetzt über unzulängliche Deutschkenntnisse von Gemeindemitarbeitern klagen.
Die Institution Jüdische Gemeinde wird in allen Bereichen von Religion, über Soziales bis Kultur von der Mehrheit ähnlich eingeschätzt: unzeitgemäß, unattraktiv oder uneffektiv. Das Prädikat »jüdisch« ist per se noch kein Qualitätsmerkmal und garantiert auch nicht automatisch einen (z.B.) hohen Zulauf. Bestes Beispiel ist, wenn ein Drittel der Befragten nur bei »sehr guter Ausstattung« in ein jüdisches Seniorenheim ziehen würde, ein weiteres Drittel sich nicht entscheiden kann und fast der Hälfte von denen, die es bereits besichtigt haben, das bestehende jüdische Seniorenzentrum nicht zusagt.
Im Kultur- und Freizeitbereich vermissen die Mitglieder vor allem Treffmöglichkeiten für Erwachsene (besonders für die »Mittelalter«). Deutlich mehr als für Religionsthemen, Gedenkveranstaltungen oder gar Repräsentantenversammlungen interessieren sie sich für Konzerte, Feiern und Vorträge. Hier werden auch die unterschiedlichen Vorlieben der Mitglieder besonders deutlich: Für Konzerte intereres-sieren sich sehr viel mehr GUS-Zuwanderer als »Einheimische«, bei den Vorträgen ist genau umgekehrt. Der Spagat setzt sich bei den Inhalten fort: 12 % Befragte wollen »klesmerfreie Zonen«, doppelt so viele wollen das Gegenteil: z.B. Klesmer – davon sind 60 % aus der UdSSR, aber nur 25 % aus Deutschland.
Die Einheimischen wünschen sich auch mehr gesellschaftspolitische, historische und israelische Bezüge und monieren stärker die Qualität der Veranstaltungen. Diese seien oft langweilig, altbacken, es fehle »Meinungsvielfalt« und der Blick »für andere Kulturen und Religionen«. So besuchen auch nur ein Drittel (vor allem Zuwanderer und Ältere) regelmäßig jüdische Veranstaltungen und fast ein Drittel können sich nicht einmal an die letzte Gemeindeveranstaltung erinnern, an der sie teilgenommen haben. Am Sicherheitsrisiko scheinen die schwachen Besucherzahlen jedenfalls nicht zu liegen: Mehr als zwei Drittel der Befragten fühlen sich in jüdischen Einrichtungen »gut« oder sogar »übertrieben« beschützt und die große Mehrheit (83 %) lässt sich durch Sicherheitsmaßnahmen auch nicht vom Besuch jüdischer Orte abhalten.
Die Unterschiede zwischen Mitgliedern (verschiedener Herkunft, verschiedenen Alters und Geschlechts, aber auch innerhalb dieser Kategorien) in Bezug auf ihre Interessen, Vorlieben, Mentalitäten usw. sind insgesamt so erheblich, dass Konzepte (egal ob für Event- oder Religionssektor), die allen zugleich dienen sollen, kaum greifen können. Fraglich ist, ob solche »alle(s)« umspannenden Konzepte überhaupt erstrebenswert sind. Allerdings kann eine »Einheitsgemeinde«, die allen Strömungen Rechnung tragen will, nur dann für eine Mehrheit befriedigend funktionieren, wenn sie die unterschiedlichen Lebensentwürfe ihrer Mitglieder in der Praxis auch zuläßt. Genau das aber bezweifeln viele der Befragten.
Wo aber leben die Mitglieder ihr Jüdisch-Sein aus, wenn sie es im Umfeld der Gemeinde nicht tun, zugleich aber ihre Freizeit zu einem nicht unerheblichen Teil mit Juden verbringen, wie die Antworten zeigen. Alarmierend ist zudem, wie viele (meist ältere) Mitglieder isoliert sind und offenbar keine »Nische« für sich gefunden haben.
Kritik ist jedoch nicht ausschließlich an die Gemeindeadministration/-führung zu richten. In allen abgefragten Bereichen übertrifft die Zahl der passiven Mitglieder bei weitem die der aktiven. Die Bereitschaft zur Eigeninitiative, z.B. zu ehrenamtlicher Arbeit, ist gering, der Wille zum Konsum hoch. »Die Gemeinde« soll nicht nur Angebote erstellen und verantworten, sondern sie den Mitgliedern möglichst auch hinterher tragen. Und wenn sich 42 % der Befragten »zu wenig« über das Gemeindegeschehen informiert fühlen und andererseits ebensoviele noch nie bei einer Gemeindeversammlung waren, um sich zu informieren, stimmt auf beiden Seiten etwas Grundlegendes nicht.
Der Gemeinde bzw. ihren vermittelnden Instanzen ist es nicht ausreichend gelungen, die Notwendigkeit gemeindegestalterischer Aktivitäten zu vermitteln. Sie konnten den Mitgliedern bislang offenbar nicht einmal klar machen, dass sie mit jeder Gemeindereise, jedem Pessach-Paket, jedem Besuch der Sozialberatung oder eines Gemeindeklubs und jedem »jüdischen berlin«, das sie nach Hause bekommen, auch Ressourcen und Dienstleistungen der Gemeinde nutzen, selbst wenn sie keinen Cent Gemeindesteuer bezahlen.  Dass dieses Bewußtsein fehlt, wird daran deutlich, dass über die Hälfte aller Befragten aussagen, noch nie oder nur ein einziges mal eine Dienstleistung der Gemeinde beansprucht zu haben.
Ganz offensichtlich gibt es jedoch auch funktionierende »Inseln« im Gemeindesystem, so die Bibliothek oder der Seniorenklub »Achva«. Das positive Feedback, das solche Einrichtungen erhalten, hängt – so der Tenor der Kommentare – damit zusammen, dass dort der »Kunde König ist« und ernst genommen wird, dass diese Einrichtungen relativ selbständig arbeiten (ihnen also niemand groß rein redet) und Verläßlichkeit ausstrahlen. Damit ist ein wesentliches Defizit angesprochen. Wenn Anrufer von drei verschiedenen Gemeindemitarbeitern drei verschiedene (oder gar keine) Antworten erhalten, kann von Verläßlichkeit und Strukturiertheit keine Rede sein. Genau diesen Eindruck scheinen etliche Mitglieder zu haben, wenn sie sich »lieber nicht an die Gemeinde wenden«, die Mitarbeiter für »inkompetent«, »arrogant«, »bürokratisch« halten und sich über die Hälfte bei der Lösung ihrer Probleme nicht oder nur »manchmal« unterstützt fühlen.
Um Verläßlichkeit/Kompetenz, aber auch Empathie (wieder) herzustellen, ist nicht nur die Einstellung von Mitarbeitern nach Qualifikation notwendig, sondern auch Schulung und Training des vorhandenen Personals. Dass Leute ihren Job »schon seit 20 Jahren« machen, heißt nicht zwangsläufig, dass sie ihn auch »richtig« machen, andererseits werden vorhandene Fähigkeiten von Mitarbeitern nicht effektiv genutzt, weil sie nicht erkannt oder gefördert werden.
Hinzu kommt die hohe »Verwandtschafts- und Bekanntschaftsdichte« als generelles Problem kleiner, z.B. konfessioneller Einrichtungen. Der Konflikt zwischen Mitgliedern verschiedener Herkunft (bzw. »Langansässigen« und »Spätergekommenen«) läuft wesentlich über einen sozialen Vergleich ab (wenn jemand z.B. schreibt, »andere« Personen/Gruppen würden bevorzugt). Im überschaubaren Gemeindekosmos verbreiten sich Gerüchte schnell, sind Vergleiche mit anderen leicht, und die Unterscheidung, was privat und was Geschäft ist, wem geholfen wird, wem nicht, ist schwieriger als in Kontexten, wo die Personen vor und hinter dem Schreibtisch sich nicht kennen. Insofern sind hier auch nachvollziehbare Vergabekriterien und Kontrollen noch notwendiger als anderswo. Das gilt für Personen wie für Institutionen. Mit selbst verwalteten, kontrollierten Fonds für die Synagogen – beispielsweise – ließe sich möglicherweise (falschen) Neidgefühlen begegnen, aber auch Verantwortung und vor allem Verantwortungsbewusstsein besser verteilen.
Um Kontrollmechanismen installieren sowie Aufgaben und Kompetenzen überhaupt definieren, verteilen, abgrenzen und verzahnen zu können sowie Überschneidungen zu vermeiden wäre als erster Schritt – wie bei jedem anderen Unternehmen auch – eine Strukturanalyse angebracht, am besten im Vergleich mit »Firmen« ähnlicher Größen- und Aufgabenordnung. Mit ihr sollten für jeden einzelnen Sektor verbindliche (!) Organigramme erstellt und die Kommunikationswege geprüft werden. Einrichtungen/ Angebote werden auch deshalb nicht genutzt (und sind nicht ausgelastet), weil der Informationsfluss gestört und die Gemeindestruktur nicht transparent genug oder stellenweise absolut beliebig wirkt.
Der Analyse- und Trainigsbedarf gilt in gleicher Weise für die Arbeit der Dezernenten, RV- und Ausschussmitglieder. Ein Dezernentenwechsel alle vier Jahre ist an sich schon problematisch, weil Aufgabenrealisierungen oft mehr Zeit brauchen. Da neue Dezernenten auch gern »das Rad neu erfinden«, anstatt das Beste aus dem Vorhandenen herausholen und hin und wieder mehr personen- als sachbezogen agieren, haben mittel- und langfristige Strategien wenig Chancen. Hinzu kommt, dass sie in aller Regel nicht über Fachwissen in ihrem Dezernat verfügen, also Laien sind. Ohne Schulung oder Hinzuziehung von Beratern lassen sich ihre Aufgaben kaum adäquat lösen (so wie die RV-Mitglieder die dazugehörigen Entscheidungen aus gleichem Grund eigentlich nicht treffen können oder dürften).
Zugleich ist das (öffentliche) Tun der Entscheidungsträger/Gemeindevertreter nicht geeignet, Vertrauen und Respekt hervorzurufen. Wenn ein Großteil der Mitglieder findet, die Gemeinde melde sich zu selten – und wenn, dann unqualifiziert – in der Öffentlichkeit zu Wort und hätte dort ein »eher negatives Bild« oder sei sogar »nur bei negativen Schlagzeilen präsent«, dann sind daran nach Einschätzung der Befragten nicht nur die Medien, sondern auch die Gemeindevertreter selbst Schuld. Der rüde Ton, der bei Repräsentantenversammlungen oder im Beisein Außenstehender zwischen RV-Mitgliedern, Vorgesetzten und Mitarbeitern oder Mitarbeitern und Mitgliedern herrscht, spiegelt sich auch in den Antworten der »Basis« wider. Die zeigt sich enttäuscht von ihren gewählten Vertretern und spart auch selbst nicht mit – teilweise unsachlichen, bösartigen bis denunziatorischen – Kommentaren. Positives oder gar Selbstkritisches gibt es nur wenig. Nichtsdestotrotz sind die Kommentare »das Salz in der (Umfrage)Suppe« und sollten Beachtung bei den Gemeindevertretern finden. Sie sagen oft mehr über die Befindlichkeiten der Mitglieder als die Zahlen aus und enthalten viele konstruktive Anregungen und Denkanstöße, für die den Teilnehmern auch ausdrücklich gedankt sei.

Das letzte Wort haben die Mitglieder.
„Was ich immer schon mal sagen wollte“ – Auszüge aus den Teilnehmerkommentaren:


> Es herrscht kein freies geistiges Leben. Die Gemeinschaft bildet eine geschlossene Gesellschaft.
> Wünsche mir innerjüdische Diskussion über die Zukunft des Nahen Ostens (keine Parolen, sondern Lösungsansätze und Visionen).
> Realitätsbezogenere Gottesdienste, die zum 21.Jahrhundert passen, würden den Synagogen bestimmt Zulauf verschaffen; die Gemeinde sollte zur Tagespolitik in Deutschland Stellung beziehen; stärkere Vernetzung mit anderen Gemeinden in Deutschland und Europa wäre gut.
> Mitarbeiter auf Qualifikation überprüfen und nach Qualifikation einstellen, nicht nach Herkunft oder Verwandtschaftsgrad; die Repräsentanten wurden gewählt, um für die Mitglieder zu arbeiten und nicht gegen sie und nicht zur Selbstprofilierung.
> Bravo für diese Umfrage!
> Im Vorstand sollten Leute sitzen, die Ahnung von ihren jeweiligen Dezernaten haben, nicht Laien. Guter Wille reicht nicht, um ein (inzwischen) so großes Unternehmen zu führen und zukunftsfähig zu machen. Sondern Professionalität, Management, Kontinuität der eingeschlagenen Wege über mehrere Legislaturperioden.
> Die Gemeinde hat mit der Aufnahme tausender russischer Juden eine gigantische Integrationsleitung vollbracht (letzte 10 Jahre). Jetzt wären diese neuen Mitglieder an der Reihe, ihrerseits sich für die Gemeinde zu engagieren.
> Freizeitangebot für Deutschsprachler ist zu gering.
> Kommunikation zwischen Vorstand, Abteilungsleitern und Mitarbeitern ist mangelhaft.
> Ich würde gern regelmäßig den Seniorentreff „Achva“ besuchen, aber obwohl der Vorhof Fasanenstraße vollkommen leer ist, ist es nicht möglich, dort zu parken, da laut Ihres Pförtners der Platz nur für „Prominente“ reserviert ist.
> Ich möchte als polnischer Jude auch öfter die Vergangenheit des Judentum in Polen berücksichtigt haben.
> Es ist skandalös, dass Berlins jüdische Friedhöfe keine Chewra Kadischa haben.
> Ihr habt einen schwierigen Job. Lob für euren Einsatz!
> Ich bin eine überzeugte Atheistin, habe aber nie mein Jüdischsein verneint, denke aber, dass nicht die Religion das Wichtigste ist für mein Volk, das ich liebe, sondern die Solidarität, das Zusammengehören, das jetzt fehlt, sogar in dieser Gemeinde.
> Meiner Meinung nach ist es ein schwerwiegender Irrtum, weiter alle Mitteilungen zweisprachig zu machen. Dass auch jemand beim Kultus oder in der Sozialabteilung Russisch kann, ist in Ordnung, aber Sie merken doch selbst, dass sich zwei Blöcke bilden. Und das kann doch nicht gewollt sein.
> Es fehlt ein Ort, wo einfach Leute zusammen kommen können ohne Druck und Verpflichtung. Es sollte auch etwas für westeuropäische Juden angeboten werden.
> Ich bin im Großen Ganzen zufrieden! Nach Außen sollte die Gemeinde sich besser darstellen und klüger antworten auf manche täglichen Geschehnisse, vor allem antisemitische.
> Die Gemeindezeitung kann dicker und bunter sein und etwas auf Iwrit einhalten. Die Integration der Israelis ist eher mangelhaft.
> Die Jugendarbeit wird absolut unterschätzt. In Anbetracht dessen, dass diese Kinder einmal die Gemeinde übernehmen sollen, sehe ich schwarz.
> Berlin ist ein bürokratischer, unproduktiver Gemeindeverein. Schade eigentlich, denn hier ist viel möglich!
> Ich wünschte mir, dass wenn ich in der Gemeinde anrufe, und etwas erfragen will, ich besser verstanden werde (Deutsch) und auch die Antwort besser verstehen würde.
> Die Gemeinde ist kein Arbeitsamt und kein großer Arbeitgeber. Unterstützung für die Zuwanderer ja, aber keine Pseudojobs besetzen von inkompetenten Arbeitern, die die Gemeinde nur Geld kosten.
> Mehr Meinungsvielfalt – innerhalb der Gemeinde, im „jb“, bei Veranstaltungen und im Auftreten nach Außen zur Öffentlichkeit hin.
> Ich wünschte, die Jüdische Gemeinde würde ihre Stellung nutzen, um andere Minoritäten zu unterstützen bzw. die Zusammenarbeit zu stärken.
> Bei Telefonauskünften der Auskunftsassistenten bitte besseres Deutsch, Höflichkeit und Sachkenntnis.
> Ich wünsche mir, dass die Amtssprache in der Gemeinde Deutsch statt Russisch ist und sich die russischen/israelischen Beschäftigten der deutschjüdischen Mentalität anpassen. Sie werden ja auch in Euro und nicht in Rubel bezahlt.
> Die Art der Fragestellungen ist z.T. bereits tendenziös und schließt damit ein echtes Meinungsbild aus (und sie) setzt Definitionen voraus, die diskussionswürdig sind.
> Bei der Gemeinde telefonische Auskunft zu wünschen ist abenteuerlich, man weiß nie, wo man landet!
> Ich habe mich vor ca. zehn Jahren aus Gemeindeaktivitäten zurückgezogene weil ich die Streitereien, die Profilsucht nicht ertrage.
> Es ist unangenehm, in die Gemeinde zu kommen, wo man sich so ablehnend und hochnäsig uns gegenüber verhält. Das tut weh und ist verletzend.
> Der Umgang mit den Gemeindemitgliedern ist in letzter Zeit netter und mitfühlender geworden.
> Der Weg zum Giur ist eine Katastrophe. Die Frage der Mitgliedschaft nichtjüdischer Familienmitglieder muß überdacht werden. Die Situation der Juden ist zu klären, deren Vater jüdisch ist.
> Unsere jungen Leute müssen in einem westlichen Geist aufwachsen und Karate lernen um sich selbst zu schützen.