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Tu Bischwat im Wandel der Zeit
01.Januar 2021 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
Am 15. Tag des Monats Schwat (in diesem Jahr der 28.Januar) feiern wir Tu Bischwat, das Neujahr der Bäume.Das Datum geht auf den Landwirtschaftskalender des alten Israels zurück und wird erstmalig in der Mischna erwähnt (Rosch Haschana 1,1) – nicht als Fest, sondern als Stichtag für die Berechnung des Abgabezehnts. Damals musste – wie für jedes andere Einkommen auch (3. Moses 27, 30) – für geerntete Früchte der zehnte Teil abgegeben werden, und am 15. Schwat endete das Zinsjahr. »Tu Bischwat« bedeutet auch wörtlich »15. Schwat«. »Tu« besteht aus »Tet« und »Waw«, die zusammengerechnet (9+6) den Zahlenwert 15 ergeben (um den Namen Gottes zu vermeiden, zählte man nicht das näher liegende »Jod«+«He«, also nicht 10+5).
Aber warum überhaupt der 15. Schwat? Zum einen bezieht sich das Datum auf die klimatischen Bedingungen in Israel, und nicht im kalten Europa. Der 15. Schwat fällt dort in eine Zeit, in der der Winter fast um und der meiste Regen bereits gefallen ist. Eine Zeit, in der die neuen Früchte Gestalt annehmen und »der Saft in die Bäume zu steigen beginnt«, wie Raschi sagt. Zum anderen nimmt man heute sogar an, dass die Schulen Schammajs und Hillels ihre Festlegung für den Neujahrstag der Bäume auf längere Wetterbeobachtungen stützten und das gewählte Datum dem von ihnen errechneten Durchschnittswert entsprach.
Die älteste liturgische Dichtung zum Neujahr der Bäume als Fest stammt aus dem 10. Jahrhundert. Tu Bischwat wird analog zu Rosch Haschana auch als Gerichtstag gedeutet. An diesem Tag entscheidet das himmlische Gericht, welcher Baum stirbt, welcher Früchte trägt, welcher gepflanzt wird. Und seit alters her steht an diesem Tag das Essen von Obst als symbolische Verbindung mit Erez Israel im Mittelpunkt. In vielen sephardischen Gemeinden isst man traditionell zehn Frucht- und Nußsorten – sie sollen die zehn Sefirot symbolisieren.Zurück geht Tu Bischwat als »Tag des Obstessens« auf den Kabbalisten Rabbi Jitzchak Lurja Aschkenasi, der den »kollektiven Vitaminschock« im 16. Jahrhundert im galiläischen Zfat als Akt der Teilnahme des Menschen an der Freude der Bäume einführte. Der neue Brauch soll für viele der durch Vertreibung, Inquisition und Selbstkasteiung gebeutelten Juden ein positives lebensbejahendes Gegengewicht gewesen sein. Später erweiterte die kabbalistische Gemeinde das Fest und führte einen speziellen Tu Bischwat-Seder ein. Erstmals 1753 schriftlich festgelegt im »Sefer Pri Ez Hadar«, wurde bei ihnen der Obsttag zur regelrechten »Obstorgie«: 30 verschiedene Früchte, so sieht die Ordnung vor, sollen am weiß gedeckten Tisch verzehrt werden, wobei zur jeweiligen Frucht passende Texte und Segenssprüche hergesagt werden. Bei diesem Seder wird aber nicht nur viel Grünes verzehrt, sondern auch viel getanzt, und vor allem viel Wein getrunken: erst ein Glas Weißwein, danach ein Glas Weißwein mit ein paar Tropfen Rotwein, dann ein Glas Rot-/Weißwein im Verhältnis 1:1 und am Schluss ein Glas Rotwein mit ein paar Tropfen Weißwein. Einerseits visualisiert der Wechsel von Weiß zu Rot den Wechsel der Farben in der Natur, mithin den Wechsel der Jahreszeiten. Andererseits steht die Farbe Weiß für den männlichen und die Farbe Rot für den weiblichen Aspekt Gottes. Die wenigen Tropfen Weißwein im letzten Glas sollen außerdem die verborgenen Aspekte Gottes in der sichtbaren Welt andeuten. Die Kinder bekommen anstelle des Weines ein mit ihrem Namen besticktes Säckchen umgehängt, das mit gezuckerten Mandeln und gerösteten Kürbissamen gefüllt ist. Aber auch in aschkenasischen Gefilden ist Tu Bischwat ein Freudentag für Obsthändler. In einigen Gegenden werden – wegen des Datums 15. Schwat – immerhin 15 Sorten Obst gegessen. In den meisten Gemeinden aber bleibt es bei »nur« sieben Arten, nämlich jenen, die das Fünfte Buch Moses (8,8) erwähnt: Weintrauben, Feigen, Granatäpfel, Dattel(-honig), Weizen, Gerste und Oliven. Früher war es sehr kosten- und zeitaufwendig, diese begehrten Früchte aus dem »gelobten Land« herbeizuschaffen. In Osteuropa aß man so unter anderem gern Dörrobst oder die Früchte des Johannisbrotbaumes, weil sie den Transport aus Erez Israel gut überstanden oder man bewahrte sich wenigstens Etrogim von Sukkot auf. Die Sephardim auf dem Balkan hielten es weniger vegetarisch, zogen mit Kind und Kegel ins Freie und schlachteten einen Hammel. Da Tu Bischwat kein religiöses Fest ist, wurde es zu allen Zeiten auch modifiziert und mit neuem Sinn erfüllt den veränderten Gegebenheiten angepasst. In der Pionierzeit in Palästina erhielt das »Neujahr« die zusätzliche Bedeutung eines »Geburtstages« der Bäume. Und dessen wichtigstes, bis heute praktiziertes Ritual ist es, einen Baum zu pflanzen oder – so man in der Diaspora lebt – Geld für die Aufforstung zu spenden. Geboren wurde dieser Brauch 1890, als – in Anlehnung an die europäische Sitte, am 1. Mai, dem Frühlingsfest, Bäume und Sträucher zu setzen – der Lehrer Zeew Jafetz mit seinen Schülern zum ersten Mal an Tu Bischwat in Sichron Jaakow feierlich junge Bäume pflanzte. Die Idee dieser Art Aufbauarbeit wurde begeistert aufgenommen und bald, 1908, von der Lehrer- und Kindergärtnergewerkschaft in Palästina zur Schulpflicht erhoben. Nur hundert Jahre später hat der 15. Schwat eine weitere Bedeutung bekommen – in den 1990ern wurde er in Israel zum Tag des Umweltschutzes erklärt. Denn Aufbau und Industrialisierung haben dem Land nicht nur Segen gebracht, sondern auch seine Natur geschädigt. Tu Bischwat ist heute ein Tag, an dem Schüler nicht mehr nur Bäumchen pflanzen und biblische Früchte essen, sondern bei Ausflügen zu ökologisch bedrohten Gebieten vor allem über die Kehrseiten und Grenzen des Fortschritts aufgeklärt werden. JK
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