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Tscholent in der Pionierrepublik
01.Mai 2008 | Beiträge – jüdisches berlin | Aktivitäten
Die erste dreitägige Limmud-Konferenz in Deutschland war ein voller und anregender Erfolg
Einigen Einheimischen kam sicher sofort eine Machane in Wembach aus längst vergangenen Tagen in den Sinn und Ex-Sowjetlern möglichweise ein Aufenthalt im Pionierlager „Artek“ , als ihr Bus auf das Gelände der früheren „Pionierrepublik Wilhelm Pieck“ am Werbellinsee einbog, wo Generationen von sozialistischen Vorzeigepionieren ihre Ferien verbracht oder militärisches Rüstzeug in Manöverspielen erworben haben. (Spätestens muss die Erinnerung jedoch beim Höllenlärm und dem gemeinsamen Absingen der Tischgebete in der großen Mensa gekommen sein.)
Das Vorbild, Limmud in England, das es schon seit 27 Jahren gibt, erreicht inzwischen 2 500 Menschen pro Veranstaltung. Auch „Limmud.de“ brachte es (in Anwesenheit des Limmud-„Vaters“ Clive Lawton) schon beim ersten Anlauf auf 350 Teilnehmer – die Ältesten über 80, die jüngsten kein Jahr alt, angereist vor allem natürlich aus Berlin, aber auch aus Aachen, Basel, Jerusalem, London, Oslo und Wien.
Limmud ist eine Lerngemeinschaft „von unten“. Jüdisches Lernen, re-spektvoller und möglichst vorurteilsfreier Austausch nach dem Prinzip: Jeder kann Lehrer sein und jeder soll Schüler sein – mit dem Ziel, die Vielfalt und (ohne Ausschluss möglicherweise missliebiger Standpunkte) die Wahlmöglichkeiten zu zelebrieren, die eine jüdische Existenz bieten kann. Getreu diesem Credo war das Workshop-Programm wie der köstliche Tscholent am Samstagmittag eine aromatisch-wilde Zutatenmischung – so unterschiedlich wie die Teilnehmer, von streng orthodox bis „laisser faire“. Und das Phantastischste: Es funktioniert!
Man konnte wählen zwischen egalitärem und traditionellem (oder gar keinem) Gottesdienst, zwischen den Seminarsprachen Deutsch, Englisch und Russisch (anders als bei den elitären Tarbut-Kongressen auf Schloss Elmau nahm hier eine große Zahl Russischsprachiger teil) und zwischen weit mehr spannenden Workshops als man besuchen konnte.
Da gab es etliches zur Nahost-Thematik wie über die „ewige“ Rolle Jerusalems als Wiege des Friedens und Krippe des Krieges oder einen Film über 1948 als Geburtsjahr des neuen Nahen Ostens, erzählt anhand des persönlichen Schicksals jüdischer und palästinensischer Protagonisten – anhand von „Traum und Trauma“. Ein israelischer Journalist berichtete über einen Besuch im Iran, die dortige 2 500-köpfige jüdische Gemeinde und die Ähnlichkeiten zwischen Iran und Israel, die beide pluralistische Gesellschaften seien und sich beide von Arabern bedroht fühlten. In einem Raum ging es um die Probleme des islamisch-jüdischen Dialogs, nebenan um rabbinische Streitkultur, Sexualität in der Tora, „Schamanismus im Judentum“ oder um eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit des Modeunternehmens Hugo Boss. Ein Workshop befasste sich mit Öko-Kaschrut und der Frage, ob umweltschädliche Einwegteller eher koscher sind als wiederverwendbare, ein anderer mit der Entwicklung der Rechtssprechung in puncto Schächten. Jüdisches Leben auf dem flachen Lande war genauso ein Thema wie die Problematik von Mix-Ehen in modernen Gesellschaften. Eine Referentin erläuterte die Situation in Darfur, eine andere berichtete aus ihrem Alltag in der DDR. Schriftsteller lasen aus ihren Büchern, andere sprachen über klassische jiddische Literatur, über den Aufklärer Mendelssohn oder ihre Erfahrungen mit Philosemitismus. Sogar schwerere Kost wie „Die Entstehung psychoanalytischer Ideen über Religion“ oder „Hannah Arendts Thesen zum Zionismus“ ließen sich im Wechsel mit „Wir backen jemenitisches Fladenbrot“ oder einer Präsentation über die Wiederentdeckung eines Berliner Rabbiners in einer typischen 50er Jahre US-Fernsehshow bestens verkraften.Zukunftsträchtig, aber auch kontrovers und etwas ratlos ging es in den Podiumsgesprächen über jüdische Bildung zwischen Religion und Säkularismus und über Integration her. Dazu passte ein Film zweier junger Israelis über ex-sowjetische Einwanderer der 90er Jahre in Israel, die anders als ihre Vorgänger nicht mehr gezwungen sind, ihr Russischsein aufzugeben, und um die Frage, wie dies ihre israelische Identität beeinflusst und wie andererseits die russische Kultur die israelische Gesellschaft aufweicht und verändert.Wem das alles zu anstrengend war, der konnte aber auch „Die gesamte jüdische Geschichte in einer Stunde“ bekommen und anschließend ins Strandcafé wechseln (der Limmud-Gott ließ es nur des Nachts regnen).Musikalisch bestand ebenso die Möglichkeit, sich entweder beschallen zu lassen, beispielsweise von Edith-Piaf-Songs auf Jiddisch und koscherem chassidischem Hip-Hop oder aber selbst aktiv zu werden: beim mitternächtlichen Karaoke, beim Gospel-Singen (annonciert als „Weg, eine Gemeinde zu einem gemeinsamen ekstatischen Zustand zu führen“) oder als Aktivist bei den vom Akkordeon begleiteten Gemeinschaftstänzen von Freilech bis Bulgar. Das reinweg ehrenamtliche Organisationsteam, das bereits im Vorfeld Monate daran gearbeitet hat, „Limmud.de“ auf die Beine zu stellen, hat nach dieser Strapaze einige graue Haare mehr und ein paar Kilo weniger. Denn es hatte sich nicht nur mit der Programmgestaltung und Zimmerverteilung herumzuschlagen, sondern auch spontan Fragen zu klären wie: Was tun, wenn die Schnur zur Abgrenzung des Eruws zu kurz ist?, oder Wie bekommen wir jetzt sofort ein Klavier (das wir noch gar nicht haben) an den Werbellinsee? (und als es endlich glücklich da war: Wie bekommen wir es wieder zurück)?Doch der Stress hat sich gelohnt. Die Limmudnikim sind – nicht zuletzt durch die überwältigende Resonanz aus allen „Lagern“ – weiterhin überzeugt von ihrem Konzept und nach der verdienten Verschnaufpause bereit für das nächste Abenteuer: Limmud 2009 – im Pionierlager oder anderswo.
Judith Kessler
jüdisches berlin
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