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Traumatisiert
01.April 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Menschen
Eva Nickel aus der Sozialbteilung berichtet von ihren Erfahrungen bei der Arbeit mit Menschen, die noch immer an ihren Erlebnissen in der NS-Zeit leiden
Wir alle kennen durch unsere Eltern und Großeltern die Probleme, die auftreten können, wenn sie völlig unerwartet in Wut geraten oder die Fassung verlieren, wenn sie tieftraurig und ängstlich reagieren und wir gar nicht einordnen können, wie und warum das passiert.
Wir wissen nur diffus, dass dies mit der Nazizeit, mit der schlimmsten Zeit ihres Lebens, zu tun hat. Wir wissen von all den Verwandten, die umgebracht wurden, und oftmals tragen wir auch ihre Namen oder uns wird erklärt, dass wir genauso sind oder aussehen wie eben gerade der besonders liebe Verwandte, die Schwester, der Bruder, der Onkel, die Tante. Wir selbst aber wagen nicht zu fragen, was Mutter oder Vater konkret erlebt haben in der Gefangenschaft oder auf der Flucht. Das könnte ja wieder einen Gefühlsausbruch, in der Fachsprache nennt sich so etwas »Trigger«, hervorrufen, und den wollen wir keinesfalls provozieren. Schon allein deswegen, weil wir nicht wissen, wie wir damit umgehen sollen.
Die Eltern waren durch die schlimme Zeit traumatisiert und meist sind sie es noch immer. Um wieder ein »normales Leben« führen zu können, hätten sie Hilfe gebraucht, einen Ort oder eine Person, mit der sie sprechen, der sie ihre Erlebnisse hätten offenbaren können. Aber im »Land der Täter« hatten die anderen, die ihre Taten selbst verdrängen wollten, keine Lust auf die Berichte der Opfer. In Deutschland gab es lange kein Forum, geschweige denn Therapiemöglichkeiten. In den meisten anderen Ländern sah es jedoch auch nicht viel anders aus. Niemand, auch die Gutwilligen nicht, machte sich wirklich klar, dass »vorbei« für die Betroffenen eben nicht »vorbei« war. Und so wurde weiter geschwiegen.
Die von mir betreuten Menschen sind noch immer schwerst traumatisiert durch Konzentrationslager, Ghetto, Illegalität, Emigration und Flucht. Oftmals sind sie doppelt oder dreifach belastet, weil sie nach dem Krieg keine Glaubwürdigkeit erfuhren und dann nicht selten als Lügner stigmatisiert wurden.
Wo hätten sie auch hingehen sollen, um Verständnis zu finden, geschweige denn eine fachgerechte und verständnisvolle Behandlung? Und mit den Kindern wurde schon gar nicht gesprochen, sie sollten nicht belastet werden, sie sollten ein besseres Leben haben.
Erst Ende der 1980er Jahre begann man weltweit das Problem dieser Traumatisierungen zu erkennen. Nur an wenigen Orten, so in Oslo, London und Amersfort etablierten sich spezielle Zentren, an denen jedoch nur wenige Überlebende psychotherapeutische Hilfe erhalten konnten. Selbst in Israel begann man erst sehr spät – nach der eigenen Sprachlosigkeit – das wahre Problem zu erfassen. Der Mehrheit der ehemals Verfolgten blieben Therapien ihrer Traumata versagt.
Nach der Befreiung wollten die hiergebliebenen Verfolgten ein neues Leben aufbauen, endlich teilhaben an der Gesellschaft. Sie verdrängten ihre qualvollen Erlebnisse. Zunächst funktionierte das auch, solange sie durch ihre Leistungen Anerkennung fanden, so lange sie durch Arbeit oder die Familie abgelenkt waren, konnten die meisten die Vergangenheit gut verdrängen. Denn sie hatten schon in der Nazizeit das Schweigen gelernt, um den Preis ihres Lebens. Die Schoa-Überlebenden bauten Lebenstrategien auf, um ihre Todes- und Verfolgungsängste, ihre Verluste und ihre Schuldgefühle, weil sie überlebt hatten, beherrschen zu können.
Über Jahrzehnte funktionierte diese Strategie. Mit zunehmendem Alter jedoch – nach der Berentung, nach dem Auszug der Kinder aus dem Haus oder dem Tod des Ehepartners – konnten sie, in einer veränderten Situation, die in der lebensbedrohlichen Zeit reflexartig eingeübten Verhaltensweisen häufig nicht ablegen.
Besonders bei Hochbetagten sind Ausbrüche voller Aggressivität, Wut und Enttäuschung keine Seltenheit. Bindungen und die Ansprüche an eine sehr vertraute Person (wie die Tochter oder der Sohn, die Pflegerin, die Freundin) sind so eng, dass diese Person kaum noch Spielraum für ein eigenständiges Leben fühlt und findet.
In ihrer Hilflosigkeit erwarten die ehemaligen Verfolgten Beistand und Verständnis. Meist können sie dabei ihre eigentlichen Probleme nicht benennen. Einem Klienten sagte ich einmal während eines seiner Wutanfälle: »Sie sind ungerecht und Sie denken nur an sich!« Er brüllte panisch zurück: »Hätte ich das im KZ nicht getan, würde ich schon lange nicht mehr leben!«. Und das ist richtig.
Je weiter die Nazizeit wegrückt, um so stärker werden die Erinnerungen und tauchen unerbittlich nahe und häufiger auf als früher in den Aufbaujahren nach der Verfolgung. Die tiefen Narben schmerzen und rufen immer wieder bittere Tränen und nächtliche Albträume und Schlaflosigkeit hervor. Sie wären in einer Therapie aber kaum noch heilbar. Die Erinnerungsketten und Schmerzen, die hier wieder aktiviert würden, könnten nach dieser langen Zeit mehr Schaden als Hilfe bringen. Nicht wenige Verfolgte würden am therapeutischen Prozess zerbrechen.
Wir können ihnen daher als Helfer nur Verständnis, Trost, Halt und Stärke geben, das bedeutet: sehr viel Geduld haben und versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen und mögliche Angriffe nicht auf sich selbst zu beziehen.
Manche Überlebenden sind nicht mehr in der Lage, zusammenhängend zu erzählen, machen aber durch diverse Abwehrhandlungen indirekt auf ihren Zustand aufmerksam. Hier bedarf es großen Einfühlungsvermögens und Kompetenzen durch die Pflegepersonen. Andere wiederum können sehr wohl sprechen, wir sollten ihnen genau zuhören. Dabei ist es nicht wichtig, ob das Ereignis, von dem sie berichten, den Tatsachen entspricht. Es ist wichtig zu hören, was und wie sie erzählen, um ihre Empfindungen und ihre Gefühle zu erfassen – allein auf die kommt es heute an, nur so haben wir eine kleine Chance, sie zu verstehen.
Für mich war der Satz: »Hätte ich das im KZ nicht getan, würde ich schon lange nicht mehr leben!« eine wichtige Erkenntnis. Mein Gesprächspartner fühlte sich von der Situation so bedroht, dass er sich mit allen Mitteln wehren musste. Als ich das verstanden hatte, konnte ich ihm ruhig freien Redelauf lassen. Einen Tag später entschuldigte er sich unter Tränen bei mir für seinen Auftritt und bedankte sich für mein Verständnis. Dieses Verständnis zu erlangen, hatte jedoch eines beinahe lebenslangen Lernprozesses bedurft.
Die Schoa-Überlebenden sind keine Opfer, sie sind starke Persönlichkeiten, die wie »Stahl im Feuer gehärtet« wurden. Sie haben bewunderungswürdiger Weise ohne Hilfe ihr eigenes Leben unter extremen und widrigen Bedingungen gemeistert. Wer sie erlebt, weiß, was für außergewöhnliche Menschen sie sind. Sie verdienen unseren Respekt, unser Verständnis und unsere Zuwendung bis zu ihrem letzten Tag.
jüdisches berlin
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