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Swing in Wladiwostok
03.Januar 2011 | Beiträge – jüdisches berlin | Kultur, Menschen
Das Jahrhundertleben der Jazzpianistin und Diseuse Rosa Goldstein alias Peggy Stone
Sie ist das weibliche Pendant zu Adolph »Eddie« Rosner, dem jüdischen Bandleader und Jazztrompeter aus Berlin, der in der Sowjetunion Karriere macht, bis ihn Stalin in den Gulag schickt (siehe jb 9/2001): Peggy Hönigsberg, geborene Rosa Goldstein, geschiedene Mittmann, quasi geschiedene Tschemadanow, geschiedene Silberblatt – alias Peggy Stone. Ihre Eltern stammen aus Riga und Białystok an der Grenze des »jüdischen Ansiedlungsrayons« und fliehen vor den Pogromen nach Berlin. Hier wird Rosa Goldstein 1907 geboren, in der Pfalzburger Straße in Wilmersdorf. Als ein Jahr später die Goldsteins nach Białystok zurückkehren, wird dies nur die erste von vielen Reisen sein, die Rosa im Verlauf ihres langen Lebens unternehmen wird.
Vater Jakob ist ein gut situierter Textilhändler, Mutter Natalia musisch begabt – es wird Hausmusik gemacht, die drei Goldstein-Töchter bekommen Musikunterricht, und Rosa fällt schon als Vierjährige auf, weil sie mühelos und ohne Noten Melodien auf dem Klavier nachspielt. 1914, zum Beginn des Ersten Weltkriegs, zieht die Familie ins vermeintlich sicherere Moskau um (hier erlebt die kleine Rosa Fjodor Schaljapin als Mephisto auf der Bühne und ist schwer beeindruckt), flieht von dort aber nach der Oktoberrevolution wieder nach Berlin. Das erste Quartier wird in der Uhlandstraße bezogen, unweit Rosas Geburtshaus, es folgen weitere Umzüge, Grunewald, Fasanenstraße, Gerviniusstraße und der Besuch einer privaten Mädchenschule in der Pariser Straße. Hier wird Rosa ob all ihrer Talente (nach einem amerikanischen Kinderstar) bald nur noch »Peggy« genannt. Mit 15 verliebte sie sich zum ersten Mal unsterblich. Wie die Musik und ihre Reisen werden auch Männer eine wesentliche Rolle in Rosa-Peggys Leben spielen. Mit 16 ist sie verlobt (vor allem weil es Geschenke gibt und die Freundinnen neidisch sind), mit 17 entlobt, mit 18 wieder verliebt, diesmal doppelt – in den Sohn eines ägyptischen Millionärs und in den russischen Adligen Georg von Schaub, der leider verheiratet ist. Und sie genießt das aufregende Nachtleben, die Bälle, die Nähe der prominenten Künstler und die russischen Clubs im Berlin der 20er Jahre.
Peggy sitzt Modell für Schaufensterpuppen (und erkennt sich im KaDeWe »mit Tuch drapiert, halb liegend auf einem Zweisitzersofa« wieder), tritt mit Perücke und Bananenröckchen während des Filmrollenwechsels in Kinos als Josephine Baker-Imitation auf (»aber mit Büstenhalter!«), probiert sich als Show-Tänzerin aus und ist Statistin in zwei Filmen mit Elisabeth Bergner und Pola Negri.
Endlich, 1928, wagt sie sich, mit von da an wechselnden Partnerinnen zusammen, als Klavier-Duo auf die Bühne. »Lil und Peggy Stone« oder auch die »Stone Sisters« tingeln jung und polyglott mit amerikanischen Schlagern, Jazzimprovisationen und Kabarettsongs (»Warum ist der Walter so klug für sein Alter«) durch ganz Westeuropa, der großen Wirtschaftskrise zum Trotz. Sie treten im Wintergarten auf, im Moulin Rouge, im Trocadero, in der Scala.
Auf einer dieser Tourneen lernt Peggy den gut aussehenden polnisch-jüdischen Konzertgeiger Bronislaw Mittmann kennen. Sie heiraten 1932 und kümmern sich um ihre Auftritte und ihr neues Chippendale-Wohnzimmer, nicht aber um Politik. Erst als nach der Machtübernahme Hitlers sämtliche Mitglieder der Familie Goldstein panikartig Deutschland in alle möglichen Richtungen verlassen, nimmt auch Mittman ein Arbeitsangebot aus Schweden an. Hier zeugt der Womanizer, wie schon in Deutschland, ein Kind, allerdings wieder nicht mit Peggy, die sich daraufhin scheiden lässt und mit ihrer neuen Partnerin Bella Smoljanski auf Tour geht – durch Skandinavien und bald auch Russland, unter anderem mit der dort sehr beliebten Jazz-Band von Leonid Utjossow, der das Duo auch mit auf Tournee in den Kaukasus nimmt.
1936 heiratet Peggy ihren Cousin Alex Silberblatt und lebt mit ihm in Białystok, bis 1939 erst die Wehrmacht und dank Hitler-Stalin-Pakt kurz darauf die Rote Armee dort einmarschiert. Alex wird verhaftet und nach Sibirien verschleppt. Peggy lässt ihre alten Verbindungen spielen und wird als exotische Ausländerin, die Russisch singen kann, gern in Moskau aufgenommen.
Sie wohnt im »Moskwa«, dann bei der Witwe des »Sowjet-Helden« Tschapajew. Der NKWD versucht sie mit ihrem akzentfreien Deutsch als Spionin anzuwerben, sie redet sich heraus: »Zum Flirten wäre ich gut, aber in anderer Hinsicht bin ich blöd«. Sie tritt mit dem bekannten Orchester Gold & Peterburski auf und Natalja Kontschalowskaja schreibt und übersetzt Lieder für sie (unter anderem eines über »Matilda«, eine Kolchos-Milchkuh). Als die Deutschen die Sowjetunion überfallen, gelingt es Peggy Stone, sich mit einem platonischen Verehrer (den sie pro forma heiratet) und dessen Konservenfabrik nach Omsk und später nach Alma Ata evakuieren zu lassen. Peggy tritt mit anderen gestrandeten Künstlern in sibirischen und kasachischen Dörfern auf, spielt auf völlig verstimmten Klavieren, arbeitet zeitweise als Plakatmalerin und bekommt endlich ein Angebot, mit einem renommierten Czernowitzer Jazzorchester für die Armee aufzutreten. Das gefällt ihr. In Hermann Hönigsbergs fast komplett jüdischem Orchester sprechen alle Deutsch, alle drei Hönigsberg-Brüder flirten mit Peggy, man ist eine große Familie, raucht Machorka gegen Hunger und Läuseplage, fährt in einem Sonderzug von Nowosibirsk bis Wladiwostok und unterhält Soldaten und Arbeiter in Munitionsfabriken, Offizierscasinos und unterirdischen Lazaretten an der mongolischen Grenze mit sowjetisiertem Jazz, Swing und russischen Romanzen. So geht es bis Ende 1944, all die Zeit ist sie ohne Nachricht von der Familie, den Schwestern, bis plötzlich der totgeglaubte Alex sich meldet, jetzt, wo Peggy in Hermann einen Partner gefunden hat... Sie trifft Alex noch einmal, schlägt sich dann aber mit Hermann im Frühjahr 1945 und ohne Papiere nach Czernowitz durch. Erst hier erfahren sie, die all die Jahre von Judenfeindschaft weitgehend verschont geblieben sind, vom Schicksal ihres Volkes und dem Tod ihrer Eltern und eines Großteils der Familie Hönigsberg.
Peggy und Hermann gehen nach Bukarest, beide sind als Solisten überaus erfolgreich, er als Geiger, sie als Sängerin. Dann wird jedoch auch Rumänien kommunistisch, und die frisch Verheirateten wandern in den gerade gegründeten Staat Israel aus. Mit Hella, ihrer älteren Schwester, die seit 1935 im Land ist, wird Peggy nicht recht warm, sie will nichts hören vom Los der Eltern und vom Holocaust. Als die Hönigsbergs in Israel nicht genügend Auftrittsmöglichkeiten finden, machen sie sich auf ihre letzte große Reise, nach New York, wo Peggys zweite Schwester Sonja lebt. Peggy ist jetzt 45 Jahre alt, sie wird völlig von vorn beginnen und als Modedesignerin arbeiten. Hermann findet eine Anstellung bei einem Orchester, das im Nobelrestaurant »Monsigneur« spielt, wo Onassis und die Taylor verkehren; abschätzig nennt er es »Beisl«, aber es sichert den Lebensunterhalt.
Hermann Hönigsberg stirbt 1980. Da ist Peggy 74. Sie überlebt ihn um fast drei Jahrzehnte und stirbt 2009 im Alter von 102 Jahren in New York. Vorher, mit 95, wird sie – 70 Jahre nach ihrem Weggang – noch einmal Berlin besuchen und der Journalistin Regine Beyer ihre Geschichte erzählen. Die hat die episodenhaften Erzählungen der Diseuse – die sich deutlicher an die Schnitte ihrer Kleider oder den besonderen Stil von Möbeln und Verehrern als an politische Situationen erinnerte – in die Zeitgeschichte einsortiert und ein lesenswertes Buch daraus gemacht, das im Individuellen ein ganzes Jahrhundert jüdische wie Weltgeschichte aufscheinen lässt.
Judith Kessler
_Regine Beyer: Abendkleid und Filzstiefel. Die Jazzpianistin und Diseuse Peggy Stone. AvivA Verlag 2010, 430 S., 24,80
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