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»Sich Gedichte und Märchen ausgedacht…«
01.April 2010 | Beiträge – jüdisches berlin | Ausstellung
Das Jüdische Museum zeigt eine Ausstellung zum Leben und Werk von Nelly Sachs (1891 – 1970)
40 Jahre nach ihrem Tod 1970 wird eine der geheimnisvollsten jüdischen Dichterinnen mit einer Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin geehrt: »Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin Berlin/Stockholm« zeigt die historischen und sozialen Zusammenhänge ihrer Biografie mit 300 Objekten, die zum Teil erstmals öffentlich zu sehen sind. Darunter befindet sich auch ihr Briefwechsel mit Paul Celan. Die Schau entwickelt sich quasi rückwärts – nur so ist Leben und Werk der Nobelpreisträgerin zu verstehen. Dreh- und Angelpunkt ist eine Zimmerecke mit Blick auf einen schmalen Streifen Wasser, dahinter krude Industrieanlagen in Schweden. Nelly Sachs nannte es ihre »Kajüte«. Was anheimelnd und gemütlich klingt, hatte tatsächlich keine Spur von Romantik.
»Wir haben die Küchenecke der Stockholmer Wohnung in der Ausstellung ansatzweise mit Schreibmaschine und Lampe rekonstruiert. Hier hat Nelly Sachs gegessen, geschrieben und geschlafen«, berichtete der Kurator der Schau, Aris Fioretos.
Die neunundvierzigjährige Nelly Sachs und ihre alte Mutter konnten mit viel Glück 1940 aus Nazideutschland nach Schweden fliehen. Sie wohnten in Stockholm in einer düsteren, schlecht belüfteten Erdgeschosswohnung mit winzigen Räumen, nachdem sie schon in Berlin ihre Behausungen seit 1933 stets verkleinern mussten. In Schweden fand Nelly Sachs ihre Kajüte, ihren Rückzugsort zum Schreiben. Hier entstand der größte und wichtigste Teil ihres Werkes, für den sie 1966 mit dem Nobelpreis geehrt wurde.
Nelly Sachs wurde 1891 in eine gutbürgerliche Familie geboren, die im eleganten Berliner Hansaviertel lebte. Die Schau zeigt eine Fotografie der Mutter, Margarete Sachs, in jungen Jahren mit großem Hut und üppigem Pelzkragen. Der Vater, ein erfolgreicher Industrieller, besaß eine umfangreiche Schnecken- und Steinsammlung. Im Exil legt die Tochter eine neue Steinsammlung in geradezu rührender Überschaubarkeit an, ihr »Zimmergarten« passte auf einen Teller, wie ein Foto zeigt.
In Anlehnung an die väterliche Kollektion gliedert sich die Schau in zerbrochene Segmente einer Spirale, die für neun biografische Abschnitte stehen. So entstehen Bezüge und Verbindungen der beiden völlig unterschiedlichen Lebensphasen vor und nach der Flucht. Der verbindende rote Faden liegt dem dichterischen Werk zugrunde. Die Schau versucht, ihn aufzuspüren und sichtbar zu machen: Beziehungen werden nachvollziehbar zwischen dem abgeschabten Lederkoffer, mit dem Nelly Sachs in Stockholm ankam, und dem »Paradiesgärtlein« genannten Poesiealbum mit ersten Gedichten, verziert mit getrockneten Blüten und Fotos – ganz im Stil jener sentimentalen Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts. Tatsächlich tauchen Bilder und Symbole aus dem Poesiealbum in ihren späteren Gedichten auf, etwa Spielkarten und Märchenfiguren wie Dornröschen. Auch ihren größten Schatz, eine Postkarte von der verehrten Dichterin Selma Lagerlöff, bewahrte die Berlinerin in dem Koffer auf.
Als der Literaturwissenschaftler Walter Arthur Behrendsohn Ende der Fünfziger Jahre eine Biografie über Nelly Sachs veröffentlichen wollte, schrieb Nelly Sachs an ihn über ihre Jugend in Berlin in der dritten Person und sehr distanziert: »Sehr einsam und in sich gekehrt. Mit Tieren aufgewachsen. Reh, Ziege, Hunde als Gesellschaft von dem sehr tierliebenden Vater dem Kinde geschenkt. Den außerordentlichen musikalischen Vater des Abends bei seinen Klavierphantasien mit erträumten Tanzbewegungen begleitet. Sich Gedichte und Märchen ausgedacht. Diese Anlagen von der Mutter geerbt. Äußerste Schüchternheit in der Schule. Niemand von den heimlichen Dichterversuchen erzählt. Über den Jahren des erwachsenen Mädchens liegt ein Dunkel. Ein Schicksal trifft die Siebzehnjährige und dauert bis in die Vernichtungsjahre der Hitlerzeit. Eigentliche Quelle ihres späteren Schaffens.«
Nelly Sachs spielte mit dem Wort »Schicksal« auf eine unglückliche Liebe an, die sie beinahe tötet. Der unbekannte Geliebte, wie er genannt wird, tauchte offensichtlich in den Dreißiger Jahren wieder vorübergehend auf. »Es gibt Vermutungen, wer der Geliebte gewesen sein könnte. Aber Nelly Sachs’ Wunsch, es nicht öffentlich zu machen, soll respektiert werden«, erklärte Kurator Aris Fioretos.
In Stockholm pflegte Nelly Sachs ihre kranke Mutter, schrieb nachts im Dunkeln, um die alte Dame in der engen Wohnung nicht zu stören. Der Tod der Mutter 1950 traf die Tochter schwer. Kurt Wilhelm, Rabbiner der Stockholmer jüdischen Gemeinde, schenkte ihr zum Trost ein Buch: Gershom Scholems kommentierte Übersetzung des ersten Kapitels aus der wichtigsten Urkunde der Kabbala, dem Sohar. Es sollte für die Dichterin überaus bedeutend werden. Nach der Lektüre dachte sie ihr Werk neu, sah den eigenen Urpunkt in der Kajüte, eine Art Nukleus, aus dem ihr Werk entstand. In das Buch malt sie einen dicken Punkt: Entsprechend zum Text, der den Ursprung allen Seins beschreibt, war dies der Beginn des eigentlichen dichterischen Werkes der Nelly Sachs – so hat sie es selbst empfunden.
1966 erhielt Nelly Sachs den Nobelpreis zusammen mit dem aus Galizien stammenden israelischen Schriftsteller Josef Agnon. Die mittlerweile schwedische Staatsbürgerin bekam die Auszeichnung für ihre »herausragende lyrische und dramatische Dichtung, die mit ergreifender Kraft Israels Schicksal deutet«. Festlich gekleidet für die Preisverleihung mit eleganter Stola und Abendkleid, nannte sich die 75jährige selbstironisch »halb Sozietätsdame, halb Engel«.
Ihre letzten Lebensjahre waren von Krankheit geprägt: Sie schrieb nicht mehr viel, ihr Werk war beendet. Nelly Sachs starb am 12. Mai 1970.
Judith Meisner
_bis 27. Juni, Jüdisches Museum Berlin, Lindenstr. 9–14 (Mo 10–22 Uhr, Di–So 10–20 Uhr).
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