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»Selbstverständlich haben wir auch Matze bekommen…«
31.März 2009 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
Im Ersten Weltkrieg kümmerten sich die Feldrabbiner besonders an Feiertagen wie Pessach um ihre jüdischen Soldaten
Pessach wurde zu allen Zeiten und uberall von Juden begangen, so auch von den deutschen judischen Soldaten im Ersten Weltkrieg. In den vier Kriegsjahren fiel das Fest auf den 29. Marz bis 5. April (1915), 17. bis 24. April (1916), 6. bis 13. April (1917) und auf den 27. Marz bis 3. April (1918).
Das Archiv der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum bewahrt die einzigen uberlieferten Akten zur judischen Militarseelsorge aus dem Ersten Weltkrieg auf – darunter Handakten von Feldrabbinern, aber auch eine Sammlung von Feldpostbriefen, die Siegmund Feist, der Philologe und Direktor des Reichenheimschen Waisenhauses (1906 – 1935), des ersten Waisenhauses der Berliner Judischen Gemeinde, von fruheren Zoglingen bekommen hatte. Diese Dokumente legen Zeugnis daruber ab, wie judische Soldaten im Krieg Pessach feierten.
So schrieb der ehemalige Zogling Fritz Becker am 27. April 1916 an Feist: ≫Hier geht es augenblicklich ziemlich windig her und behalt man zum Schreiben daher wenig Zeit ubrig. Zu unseren Festtagen war ich in einem Dorfe hinter der Front zum Gottesdienst. Anschliesend daran war Sederabend und fuhlte man sich bald wie zu Hause.≪ Fritz Becker wurde 1895 in Berlin geboren. 1934 wanderte er nach Jugoslawien aus, kehrte nach Berlin zuruck und emigrierte nach Italien. Das letzte Lebenszeichen war 1940 ein Brief an seine Schwester in Shanghai.
Ein anderer Zogling, Hans Senft, schrieb Feist am 8. April 1917: ≫Gestern war ich der Feiertage wegen, in der nahen Stadt, zum Gottesdienst. Wir wurden dort von der Loge aus, sehr gut verpflegt (...) Ich habe mich gewundert, woher die Loge alle diese Sachen fur uns bekommen hat, denn die Verpflegung war sehr reichlich. Selbstverstandlich haben wir auch Matze bekommen. ≪ Hans Senft, 1891 in Charlottenburg geboren, fiel einen Monat nach diesem Brief in Frankreich und wurde in Neuville-St. Vaast beigesetzt.
Die etwa 100 000 judischen Soldaten in den deutschen Streitkraften wurden von uber 30 Feldrabbinern seelsorgerisch betreut. Sie sorgten mit Plakaten, Anschlagen und Zeitungsanzeigen dafur, dass die Soldaten uber Ort und Zeit der von ihnen abgehaltenen Gottesdienste informiert wurden. Zu wichtigen Feiertagen hielten sie nicht nur Gottesdienste ab, sondern kummerten sich zusammen mit den judischen Gemeinden und Organisationen in der Heimat um einen festlichen Rahmen. Die Feldrabbiner besorgten koschere Lebensmittel und Wein, was oft sehr schwierig und durch die jeweilige Kriegslage bestimmt war.
Der Feldrabbiner der 11. Armee Dr. Paul Lazarus berichtet am 23. April 1917 aus Mazedonien an den Verband der deutschen Juden uber ≫sein≪ Pessachfest: ≫Vier grosse Kisten Mazzoth waren auf meine Bestellung hin von der ‚Freien Vereinigung’ ca. 3 Wochen vor dem Feste eingetroffen; Hagadas hatte mir teils der Allgemeine Rabbiner-Verband zur Verfugung gestellt, teils waren sie in einer Berliner Buchhandlung gekauft. Fur diejenigen Kameraden, die auch hier im Felde nur rituell sich bekostigen, hatte ich einige Flaschen rituellen Wein in Deutschland bestellt ... Das Bewusstsein hunderten von judischen Kameraden an der mazedonischen Front wahre Festtage bereitet zu haben, die einem Jeden fur sein Leben lang in Erinnerung bleiben werden, mag der schonste Lohn fur alle Helfer in Rheinland und Westfalen sein. –Ca. 350-400 Mann nahmen an den Seder-Abenden teil; aus allen Gauen Deutschlands stammten sie... Ausserdem waren viele Osterreicher und Ungarn sowie die gefangenen Glaubensbruder... anwesend. An langen, weiss gedeckten Tischen, die nach Moglichkeit mit Blumen geschmuckt waren, hatte man Platz genommen. Eine frohe Stimmung herrschte; ein Jeder freute sich wieder einmal Jude unter Juden sein zu durfen... So harmonisch wie die beiden Seder-Abende, so herrlich verlief auch der Festgottesdienst am 7. April vorm. 10 Uhr in der Hauptsynagoge zu Uskub [heute Skopje]. Das geraumige Gotteshaus war bis auf den letzten Platz gefullt. Da sass der deutsche Kamerad neben dem Osterreicher, Ungarn neben bulgarischen Waffenbrudern ... Ausserdem waren einige christliche Offiziere bis zum Schlusse des Gottesdienstes anwesend. –Jeder ist zufrieden und dankbaren Herzens auf seinen Posten zuruckgekehrt... In uns Allen ohne Ausnahme aber stieg der innige Wunsch auf: Gebe Gott, dass alle, die an diesen Seder-Abenden im aussersten Mazedonien teilgenommen, in nicht allzu ferner Zeit gesund an Korper und Geist heimkehren konnen. Gott gebe uns bald den lang ersehnten Frieden. Gott segne und schutze unser heiss geliebtes Vaterland!≪ –Paul Pinhas Lazarus, 1888 in Duisburg geboren, war Rabbiner in Essen und Wiesbaden; er emigrierte 1939 und starb 1951 in Haifa.
Auch der Berliner Rabbiner Dr. Emil Levy, Feldrabbiner in der 2. Armee, informiert den Verband am 8. April 1915 aus St. Quentin (Frankreich) uber den Verlauf der Feiertage: ≫Im Besonderen sind meine Bemuhungen um grosere Quantitaten von Mazzot nicht umsonst gewesen und haben sich als notwendig erwiesen ... So war es mir moglich, die hiesige judische Einwohnerschaft von gegen 20 Familien, welche von der gewohnten Zufuhr abgeschnitten war, mit dem Notigsten zu versehen ... Die Sederfeiern dauerten nach den Gottesdiensten im Tempel von 8 . bis 11 . Uhr, bis Mitternacht waren samtliche Mannschaften beurlaubt ... – Aber auch die ‚Speisefolge’ hatte ... traditionellen Festcharakter, und ich darf wohl nebenbei erwahnen, das alles Fleisch (50 Kilo) koscher geschlachtet und rituell zubereitet war.≪ (siehe Abbildung des Speiseplanes). Deutlich wird, wie die Verantwortlichen auch im Krieg und in einer auserordentlich schwierigen Versorgungslage versuchten, die rituellen Gebote einzuhalten. Dabei kam nicht nur aus der Heimat Unterstutzung. Levy hatte auch Helfer und sogar ein regelrechtes ≫Festkomitee≪ vor Ort (siehe Foto). Sein Brief endet mit deutlichem Bezug zur Kriegsgegenwart: ≫Samtliche judischen Truppen der Armee waren an beiden Sederabenden ‚nach Moglichkeit’ beurlaubt ... 4 Gottesdienste fanden wahrend der Festwoche an der Front statt und haben den Truppen etwas Pesach- Stimmung vermittelt. Leider muste ich im Lauf der Woche auch zwei Beerdigungen vornehmen.≪ Dr. Emil Nathan Levy wurde 1879 in Dambach/Elsas geboren. Er lebte viele Jahre als Rabbiner in Berlin, emigrierte 1934 nach Palastina und verstarb 1953 in Tel Aviv. Die wichtigste Aufgabe der Feldrabbiner war die Seelsorge – in Gottesdiensten, auch fur judische Kriegsgefangene, in Gesprachen mit den Soldaten, beim Besuch von Verwundeten und Kranken in Lazaretten sowie bei Beerdigungen. Sie sorgten auch fur die Verteilung von religioser Lekture, wie Feldbibeln oder speziellen Texten zu Feiertagen wie der Schrift ≫Zum Passahfest 1915 ein Grus an die judischen Soldaten im deutschen Heere≪ des Verbandes der Deutschen Juden. Sie leiteten auserdem ≫Liebesgaben ≪ wie Tabak und Schokolade aus der Heimat weiter, organisierten Unterhaltungsabende und Vortrage. An der Ostfront engagierten sich die Feldrabbiner auf Wunsch und mit Genehmigung der Armee- Oberkommandos auch fur die notleidende judische Zivilbevolkerung. Nach der ≫Judenzahlung ≪ 1916 widmeten sie sich verstarkt dem Kampf gegen den Antisemitismus in den deutschen Streitkraften. Den Erfahrungsaustausch untereinander organisierten sie auf gemeinsamen Konferenzen. Eine Ausstellung und ein Buch uber die Feldrabbiner ist in Vorbereitung.
Sabine Hank
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