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01.Juni 2010 | Beiträge – jüdisches berlin | Orte
Alicja Kobus managt die Geschicke der Jüdischen Gemeinde im polnischen Poznań
Alicja Kobus war 20 Jahre lang Direktorin einer Vorschule. Bis sie 1998 die Jüdische Gemeinde in Poznań (wieder)gegründet hat, in einer Stadt, in der es eine halbe Million Einwohner, aber kaum Juden gibt. Die meisten waren, wenn nicht ermordet, vor den Nazis oder spätestens 1968 vor den eigenen Landsleuten geflohen.
Auch ihr Bruder habe angesichts ihrer Pläne anfangs gesagt: »Bist du verrückt geworden, willst du uns alle umbringen?«, erinnert sich die 64-jährige, aber »es war stärker als ich – ich wollte eine Gemeinde«. Begonnen habe alles mit einem schäbigen Raum in einem heruntergekommenen Viertel, den ihr der Bürgermeister zugewiesen hatte. »Man fragte mich: ›Hast du keine Angst hier? Not, Elend – und dann noch ihr Juden?!‹ …Aber wir waren fünf Jahre dort und es ist uns absolut nichts passiert«.
Sie habe alles renoviert, überall geschnorrt, hier Farbe, dort Stühle »und dann habe ich die Nachbarn eingeladen… Als wir wieder ausgezogen sind, da waren alle todtraurig«, sagt sie.
Der Umzug kam zustande, weil die Gemeinde Häuser zurück bekommen hatte, in der Gegend um die Ulica Żydowska und Wroniecka, wo schon im Mittelalter Juden wohnten und Judah Loew ben Bezalel geboren wurde, der in Prag als Rabbi Löw berühmt wurde. Hier, in der Ulica Stawna 10, wo sich vor dem Krieg der Sitz der Gemeinde und der Jüdischen Bibliothek und nach dem Krieg das Stadtarchiv befanden, sollte die Gemeinde wieder einziehen. »Das Haus war 50 Jahre lang staatlich«, erklärt Alicja, »und so sah es auch aus, es hat durchgeregnet, alles war kaputt. Wir mussten ein anderes Haus verkaufen und davon die Renovierung bezahlen. Alles ist selbst gemacht, Stück für Stück, Etage für Etage, jede Tür abgebeizt, die Treppen, alles...«.
Tatsächlich. Das Gemeindehaus ist liebevoll restauriert. Und die Hausherrin hat allen Grund, es stolz vorzuführen, auch das große Gemälde mit wichtigen Persönlichkeiten aus der jüdischen Geschichte Poznańs – Alicja Kobus inklusive.
Im letzten Jahr wurde der kleine Synagogenraum fertig, die Tora hat ein Ehepaar aus Israel gestiftet. Alle zwei Wochen wird nun Kabbalat Schabbat gefeiert. Den Ritus einzuhalten ist jedoch nicht einfach. Hin und wieder lässt sich Polens Oberrabbiner Schudrich blicken; »dann haben wir noch einen alten Herrn, der das lesen kann und es kommen Gäste aus dem Ausland«, zählt die Vorsitzende auf. »Wir müssen ja alles von Null an lernen«. Dazu gibt es verschiedene Bildungsprogramme, auch für nichtjüdische Schüler, die mit negativen (manchmal auch positiven) Klischees über Juden aufgewachsen sind.
Als ihren größten Erfolg sieht Pani Alicja an, dass unter den 50 Gemeindemitgliedern vor allem junge Leute sind. »In Polen sieht es doch so aus: viele sind getauft, andere verstecken sich, anderen ist es egal… Ich hab ihnen klar gemacht, dass es sich lohnt. Und jetzt kommen sie, fragen nach Übertritten, fragen nach dem Rabbiner, nach Israel. Die Gemeinde ist ein Trampolin. Meine Aufgabe ist es, die Leute wieder heranzuführen. Alles andere ist dann ihre Sache«.
Die Gemeindechefin, die sich im Kampf mit Bürokratie und Männerwelt ein dickes Fell angeschafft hat, lobt die »einmalig guten« Beziehungen zur katholischen Kirche vor Ort, die jedes Jahr auch Judaismus-Tage durchführe. Gibt es denn gar keine Anfeindungen? »Ach was. Primitive gibt es überall. Aber ich sehe keinen wirklichen Antisemitismus, ich schwöre! Schreib das!« Schließlich hätte sie doch soviel erreicht.
Die meisten, die herkommen aus dem In- und aus dem Ausland, interessieren sich ohnehin nur für »den Skandal«, den Umstand, dass die letzte Posener Synagoge ihr Dasein als Schwimmbad fristet. Einst war sie das prächtigste Gotteshaus der Stadt. 1907 von Cremer & Wolffenstein aus Berlin im maurisch-orientalischen Stil erbaut, bot sie 700 Männern und – auf zwei Seitengalerien – 600 Frauen Platz. Am 9. September 1939 fand der letzte Gottesdienst statt. Dann trugen die deutschen Besatzer die Kuppel und die Verzierungen ab, ersetzten alles durch Glattputz und bauten ein 25-Meter-Becken in den Innenraum. Und dort, wo dann die Wehrmachtssoldaten schwammen, wird bis heute geplanscht. Wer es weiß, erkennt noch die einstige Frauenempore. Ansonsten erinnert nur eine Marmortafel am Eingang daran (die letzte aus Messing wurde geklaut), dass dieses blau-gelb gestrichene, chlordünstende Gebäude eine Synagoge war, »die 1939 von den Hitler-Okkupanten zerstört« wurde.
»Früher war es das einzige Schwimmbad. Jetzt gibt es modernere und das hier vegetiert nur noch vor sich hin«, erklärt Kobus. »Ich habe am meisten Angst davor, dass alles zusammenstürzt, wenn man das Wasser ablässt… wegen der Statik… Das Haus gehört uns zwar wieder, aber solange wir keine Lösung haben, ist mir recht, wenn die dort weiter baden.«
Und eine Lösung scheint in weiter Ferne. Pläne gibt es, nur kein Geld. Die Architekten würden gern außen den Vorkriegszustand wiederherstellen und innen Räume für Synagoge, Theater, Bibliothek, Museum, Konzerte und Seminare schaffen – ein Toleranz- und Dialogzentrum. Kosten: 50 Millionen Zloty. »Wenn wir im profanen Teil noch ein kleines Hotel mit koscherer Gastronomie hätten, könnte sich das gegenseitig finanzieren«, rechnet Kobus. »Die jüdische Jugend aus aller Welt könnten hier herkommen, nicht nur für zwei Stunden, sondern für ein paar Tage.« Bislang allerdings bombardiert die agile Chefin die Ministerien erfolglos mit Anträgen auf EU- oder sonstige Mittel.
Die Synagoge ist mal Mittel politischer Profilierung – der Europa-Abgeordnete Libicki (PiS) wollte sie, als vermeintliche einstige Waffe im Kulturkampf der Kaiser-Wilhelm-treuen Juden gegen das Polentum, gar abreißen lassen – und mal Schauplatz kultureller, philosemitischer oder sonstiger Selbstbespiegelung. Der New Yorker Experimentalmusiker John Zorn ließ 2007 das Jubiläumskonzert seines Labels »Tzadik« hier stattfinden und der Berliner Israeli Noam Braslavski brachte in einer Performance jüdische Rituale in die entweihte Synagoge zurück: eine Bar Mizwa und eine Chuppa im Schwimmbecken, mit Akteuren in Schwarz, Weiß, Pejes, Tallit…
Wie das ankommt? »Die Leute wollen lieber echte Sachen«, meint Kobus. Und was hält sie von Aktionskünstler Rafal Betlejewski, der als Ausdruck des polnischen Phantomschmerzes derzeit überall im Land »Ich sehne mich nach Dir, Jude!« an Mauern schreibt? »Hier hat jemand sofort daneben geschrieben ›Judet Poznań nicht zu!‹…«, antwortet Alicja, und »Provokation führt zu Provokation«.
Aber immer unsichtbar bleiben? – »Ach«, sagt sie, »als ich die Gemeinde gegründet habe, war das ein Schock. So etwas braucht Zeit. Und für einen Tag herkommen und sich irgendwas ausdenken… wem hilft das? Da muss man Tag für Tag dran arbeiten«.
Und das tut sie. Alicja tanzt auf hundert Hochzeiten und kämpft wie eine Löwin. Sie hat ein großes Konzert zur Ehren Irena Sendlers organisiert und den holländischen Tulpenzüchter Jan Ligthart inspiriert, eine neue Sorte nach ihr zu benennen. An der Stelle, wo sich das deutsche Arbeitslager befand, hat er in diesem Frühjahr 2500 Tulpen pflanzen lassen, so viele wie Irena Sendler Kinder gerettet hat.
Das Ein-Frau-Unternehmen Kobus hat dafür gesorgt, dass die Universität eine Hebraistik bekommt und die Stadt einen Schüleraustausch mit Israel. Sie lässt rückübertragene Friedhöfe in Ordnung bringen, versucht unauffällig, die Bedürftigen unter den Mitgliedern versorgen zu lassen und hat erreicht, dass erstmals ein Platz nach einem Juden benannt wurde: nach Rabbi Akiva Eger. Auch der alte Friedhof, auf dem der berühmte Rabbiner 1837 beerdigt wurde, ist inzwischen hergerichtet, mit Hilfe des Londoner Komitees zur Erhaltung jüdischer Friedhöfe. »Das war wirklich schwierig. Alle waren dagegen, die Stadt, die Nachbarn, die Honoratioren, alle! Eine Frau hat aus dem Fenster geschrien ›Ich will keine Juden auf meinem Hof‹…«, grinst Alicja, »Nu, wie man sieht, hab ich es trotzdem geschafft: Da ist der Friedhof – Ulica Glogowska 26a, am Eingang muss man Code 135476 drücken, sag das deinen Lesern«!
Mach ich! Denn im Herbst will Alicja Kobus ein Konzert organisieren, und hofft auch auf viele jüdische Gäste aus Berlin. Und schließlich liegen zwischen beiden Städten kaum drei Stunden Bahnfahrt.
Judith Kessler
jüdisches berlin
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