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Schicksal und Freiheit
31.März 2009 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
Gedanken zu Purim und Pessach. Von Rabbiner Tovia Ben-Chorin
Ein ganzer Monat, dreißig Tage, trennen Purim vom Pessachfest. Wenn wir dem biblischen Kalender folgen, dann heist im Fruhling der erste Monat Nissan, ein Monat, der im Zeichen der Freiheit des Menschen steht. Das Jahr endet mit dem Adar, und auch er steht im Zeichen der Befreiung.
≫Purim≪ kommt vom hebraischen ≫Pur≪, ≫Schicksal ≪. Es ist hier die Rede vom Schicksal des Volkes Israel in der Zerstreuung und im Exil. ≫Zerstreuung ≪ bezieht sich auf die Juden, die auserhalb Israels leben, aber jederzeit dorthin zuruckkehren konnen, jene im ≫Exil≪ leben gezwungenermasen auserhalb der Heimat.
Heute lebt das judische Volk in der Zerstreuung. Anders als in Israel konnen dort die Juden ihr Schicksal wenig beherrschen. Sie werden geduldet, akzeptiert. Aber immer wieder rollen antisemitische oder gegen das Judentum gerichtete Wellen uber sie hinweg, selbst wenn sie sich gut in die Umgebungsgesellschaft integrieren. Die Balance zwischen dem Schicksal (der nicht beeinflussbaren Situation) und der eigenen politischen Aktivitat kann jederzeit schwanken.
In Israel hingegen haben die Juden zunachst das Gefuhl, sich im eigenen Land aufzuhalten, auf einem ihnen naturlicherweise zugedachten Stuck Erde. Dieses Land ist vielleicht nicht immer so unabhangig wie es gern ware. Die judische Gemeinschaft lernt mehr und mehr, auf die Regungen und Wunsche anderer Volker zu horen. Aber die Juden sind dort als Hausherren starker daran beteiligt, das eigene Schicksal zu formen.
Einerseits fuhlen sie sich, wie es in der Hatikwa heist, als ≫freies Volk in unserem Land, im Land Zion und in Jerusalem≪. Andererseits haben viele Einwanderer die Phobie des Exils mitgebracht (die Angst vor dem Nichtjuden, dem Goj, ≫der sicherlich nur Schlechtes fur mich will...≪).
Vom Ba‘al Schem Tow wird erzahlt, dass er sich einmal zu Gott wandte und sagte: ≫Ich zweifle nicht an deiner Macht, uns aus dem Exil zuruckfuhren zu konnen. Doch, Herr der Welt, wie willst du das Exil aus der Seele deines Volkes herausholen?≪
Bei Purim und Pessach geht es um die Befreiung von nichtjudischen Tyrannen: Haman und Pharao. Doch wahrend die Juden der Estherrolle nach ihrer Rettung freiwillig in der Diaspora bleiben, verlassen die agyptischen Juden das Land, in dem sie doch 400 Jahre gelebt haben, ja, sie werden sogar vertrieben. Die Bibel beschonigt diese hastige Flucht und nennt sie ≫Auszug≪. Sowohl in Persien als auch in Agypten wollen die Juden den Ort ihres Leidens nicht verlassen. Und obwohl ein Mosche in Agypten und ein Mordechaj in Persien aufstehen, wird sofort gegen beide opponiert. Das Kollektiv reagiert zunachst einmal so, dass sie ≫nicht auf Mosche horten vor Kleinmut und vor schwerer Arbeit≪ (Exodus 6, 9). Und als Haman den Vernichtungsbefehl gegen das judische Volk in die Tat umzusetzen begann, ging Mordechai ≫hinaus mitten durch die Stadt und schrie mit lautem und bitterlichem Geschrei≪. Um Aufmerksamkeit zu erwecken, demonstrierte er ganz allein und brachte sich in Lebensgefahr. ≫So kam er bis vor das Tor des Konigs…≪ (Esther 4,1-2). Wir wissen, wie die Geschichte ausgeht. Von den fruhesten Anfangen unseres Daseins an hangt unsere kollektive Existenz von unserer Umsicht und unserem Einfallsreichtum ab. So wurden wir gerettet vor Verfolgung, Vertreibung und Lebensgefahr. Etwas passiert dann mit uns, wenn letzten Endes Einzelne wie Mosche und Mordechai, Herzl und Ben Gurion kommen, die sich der Brandung, die uns verschlingen will, entgegenstellen und uns durch ihre Findigkeit einen Weg aus dem Dunkel zeigen.
Erst mit dem Zionismus hat ein Teil des judischen Volkes gelernt, diese Findigkeit nicht nur punktuell einzusetzen, sondern der Zerstreuung und dem Exil ein alternatives Gebaude gegenuberzustellen – eine unabhangige judische Wirklichkeit im Staat Israel. Was unterscheidet eine judische Wirklichkeit in der Zerstreuung von der im Land Israel? In der Zerstreuung haben wir zwei Moglichkeiten: Die eine ist die Integration in die Gesellschaft, in der wir leben, indem wir gleichzeitig unsere Identitat bewahren. Unsere judische Identitat kann dann zum Gedeihen der Gesellschaft etwas beitragen. Das Ideal der Integration, nutzlich fur eine Gesellschaft zu sein, finden wir schon beim Propheten Jeremia. Der hatte 586/587 v.u.Z. einen Brief an die mit Konig Jojachin nach Babel Verbannten gesandt: ≫Bauet Hauser und bewohnet sie, und pflanzet Garten und esset ihre Fruchte… Und suchet das Wohl der Stadt, dahin ich euch weggefuhrt habe, und betet um sie zu dem Ewigen, denn in ihrem Wohle wird euch wohl sein≪ (Jeremia 29, 1-7). Derselbe Jeremia prophezeit dann auch, dass es nach 70 Jahren Exil eine Ruckkehr des judischen Volkes geben wird, auch wenn er weis, dass nicht alle zuruckkehren. Auf unser Recht, im Land lsrael zu leben und dorthin zuruckzukehren, darf nicht verzichtet werden. Wenn wir jedoch in der Zerstreuung leben, mussen wir uns dort integrieren und nach dem Wohl unserer Umgebung streben, also aktiv fur den Frieden des uns beherbergenden Ortes eintreten. So haben es Juden immer gehalten.
Die zweite Moglichkeit besteht darin, sich in einem freiwilligen Ghetto einzuschliesen und nur minimale Beziehungen zur Umgebung zu unterhalten.
Doch nur in Israel konnen wir eine unabhangige judische Gesellschaft aufbauen, die Teil der Volkerfamilie ist. Eine Gesellschaft, die sich auf soziale Gerechtigkeit grundet – im ≫Licht der Visionen der Propheten Israels≪, wie es in der Unabhangigkeitserklarung heist. Uber den judischen Charakter dieses Staates wird in unseren Tagen gestritten. Auch daruber, was eine ≫judische Demokratie≪ heist, ist ein gefahrlicher Streit entbrannt, der unser Volk spalten konnte. Gibt es eine gemeinsame Sprache – nicht nur zwischen der Diaspora und den Juden in Israel, sondern auch unter den judischen Burgern dieses Staates?
Wenn wir Probleme damit haben, wie die Gesellschaft die in ihrer Mitte lebende judische Minderheit behandelt, so stellt sich die Frage entsprechend auch fur Israel: Wie verhalt sich der judische Staat seinen nichtjudischen Burgern gegenuber, den Christen, Muslimen, Beduinen, Drusen, Tscherkessen, Bahai?
Wir mussen zugeben, dass die Grundung des Staates Israel das Problem des Antisemitismus nicht gelost hat. Antijudische Gefuhle haben sich sogar von Europa in den Nahen Osten verbreitet. Antisemitismus ist ein Problem des gesamten judischen Volkes, wo immer es lebt. Und als ob der Hass von ausen nicht genug ware, fehlt es uns auch nicht an innerem, gegenseitigem Hass. Die Prozesse der Emanzipation und der Aufklarung sind noch nicht zu Ende.
David Ben Gurion, spater erster Premier Israels, sagte 1946 vor einer Kommission, die Losungen fur den judisch-palastinensischen Konflikt finden sollte: ≫Ein hebraischer Staat bedeutet Sicherheit fur die Juden. Wenn es etwas auf dieser Welt gibt, das den Juden fehlt, so ist es Sicherheit. Und auch dort, wo die Juden sicher sind, fehlt ihnen das Gefuhl der Sicherheit. Warum? Weil ihre Sicherheit nicht von ihnen selbst abhangt: jemand anderes muss auf sie aufpassen – oder tut dies eben nicht… Wir wollen aus eigener Kraft fur unsere Sicherheit sorgen konnen.≪ Weiter sagte dieser visionare, tatkraftige Mann auch noch: ≫Einen Staat erobert man nicht, man kauft ihn auch nicht, man erwirbt sich ihn mit harter Arbeit – und das ist es, was wir tun≪.
Naturlich kam es in den Wirren der Kriege zur Besetzung von Land. Schon vor der Staatsgrundung kaufte der Judische Nationalfonds 17 Prozent der Flache des Staates Israel. Doch die Starke des Staates misst sich an der Gesellschaft, die in ihm entsteht – und nicht an ihrer Wirtschaft, in der ihre Burger als Sklaven dienen. Das ist nicht nur ein Problem Israels, sondern der ganzen globalisierten Welt. Wir wollen immer auf der Gewinnerseite stehen. Doch unsere Aufgabe in einer menschlichen Gesellschaft besteht darin, den gottlichen Funken, der in jedem Menschen steckt, nicht zu vergessen. Das Wissen, das in der Menschheit verborgen ist, bezieht sich auf das Fortschreiten des Menschen – nicht in einer ausbeuterischen, sondern in einer solidarischen Gesellschaft.
Zwischen Purim und Pessach wollen wir versuchen, uns etwas uber unsere auf Verfolgungen, Leid und Knechtschaft begrundete Identitat zu erheben, einer Vision entgegen, in der es heist: ≫An jenem Tage...≪ Wie sieht unsere Wahl aus?
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