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Schawuot: Die Zeit der Gabe unserer Tora
02.Mai 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
Uns ist ein hohes Maß an Mitwirkung an der Offenbarung gegeben
»Auch das Wochenfest sollst du feiern zur Zeit der Erstlinge der Weizenernte«, heißt es in Ex 34,22. Schawuot, das Wochenfest, ist wie Pessach und Sukkot eines der drei Wallfahrtsfeste im jüdischen Jahreskreis. Es fällt dieses Jahr auf den 28. und 29. Mai unseres bürgerlichen Kalenders. Schawuot war in Eretz Jisrael zunächst ein Erntedankfest, an dem die Bauern die Erstlingsfrüchte im Tempel darbrachten, und hat dann so wie Pessach einen entscheidenden Bedeutungswandel erfahren. Die Tora stellt noch gar keinen Bezug zwischen Schawuot und der Offenbarung Gottes auf dem Berg Sinai dar. Dies geschieht erst im Talmud, wo von seman matan toratenu, »die Zeit der Gabe unserer Tora« die Rede ist. Nun erinnert Schawuot zunächst an die Offenbarung der Zehn Gebote am Berg Sinai, weswegen für die Toralesung auch Ex 19-20 bestimmt worden ist; die Zehn Gebote werden dabei von der Gemeinde in der Regel stehend vernomme
Das jüdische Konzept von Offenbarung misst dem hermeneutischen Prozess eine hohe Bedeutung bei. Während orthodox ausgerichtete Juden aber davon ausgehen, dass die Tora am Sinai wortwörtlich übergeben wurde, haben wir liberalen Juden ein anderes Verständnis vom Offenbarungsgeschehen und stehen damit in einer langen Tradition. So schreibt der im 14. Jahrhundert wirkende Rabbi Jom Tow ben Avraham Ischbilly aus Sevilla, »Ritba« genannt, in seinem Talmudkommentar zu Eruwin 13 b: »Als Mosche auf die Höhe stieg, um die Tora in Empfang zu nehmen, wurden ihm im Zusammenhang mit einer jeden Sache 49 Gründe gezeigt, warum es erlaubt sein sollte und 49 Gründe, warum es verboten sein sollte. Als Mosche den Heiligen – Gepriesen sei er! – um endgültige Entscheidungen bat, wurde ihm gesagt, dass derartige Entscheidungen den Weisen Israels in jeder einzelnen Generation vorbehalten seien und dass die Entscheidungen, die sie dann jeweils träfen, die gültigen Entscheidungen seien.« Dem Menschen wird also bei der Offenbarung des Willens Gottes offensichtlich ein hohes Maß an Mitwirkung gegeben. Der andauernde Prozess menschlicher Interpretation wird so zum stetigen Offenbarungsprozess, der weit über das einmalige Sinaigeschehen hinausgeht. Wir können verborgene Wahrheiten und Ansichten entdecken, es entstehen Neuerungen, durch die der menschliche Interpret zum Mitschöpfer wird. Damit verändert und wandelt sich das Judentum, so wie es zu jeder Zeit geschah: Es hat den Glauben der Erzväter mit der Gesetzgebung am Sinai in Einklang gebracht, mit dem Idealismus der Propheten, mit den praktischen Anliegen der Rabbinen. Erneuerung ist im Judentum also gang und gäbe. Das befand übrigens schon der chassidische Rabbi Ahron aus Karlin (1802–1872): »Wer nicht jeden Tag etwas erneuert, zeigt, dass er auch nichts Altes hat.«
»Wir alle standen am Berge Sinai«, heißt es. Diese Teilhabe am Sinaigeschehen trifft sogar für eine Vielzahl von religiösen Glaubenstraditionen zu, denn im Midrasch Schemot Rabba V. 9 wird von Rabbi Jochanan berichtet, dass Gottes Stimme sich am Sinai erst in sieben Stimmen und dann in 70 Sprachen geteilt habe – damit alle Völker außerhalb des Bundes Anteil bekommen an dem, was zu Israel und in Israel gesagt wurde. Das wiederum impliziert, dass das Offenbarungserlebnis als Schritt zur geistigen Befreiung allen Menschen gleichermaßen zuteil werden soll.
Der Überlieferung nach wurde die Tora im Jahr 2448 nach der Erschaffung der Welt gegeben. Nach traditioneller Auffassung empfing Mosche im Offenbarungsgeschehen am Sinai nicht allein die schriftliche Tora von Gott, sondern auch die mündliche Tora. Sie ist der Schlüssel, der allein zum vollen Verständnis der schriftlichen Tora Zugang verschafft.
Da den Kindern Israels zu Schawuot die Tora übergeben wurde, wird das Fest auch chag matan tora, »Fest der Tora-Gabe« genannt. Die Rabbinen betonen, dass die Kinder Israels erst durch die Tora ein freies Volk wurden. Sie empfingen die Tora freiwillig und bewusst (Ex 24,), und ohne die Annahme des »Jochs des himmlischen Königreichs« wäre die Befreiung aus der auch geistigen Knechtschaft zu Pessach nicht vollendet worden. Ein dritte Name ist chag hakatzir, »das Fest der Ernte« nach Ex 23,16: »Ferner das Fest der Ernte, der Erstlinge des Ertrags deiner Aussaat, mit der du das Feld bestellt hast.« Die Gerstenernte beginnt zu Pessach und endet zu Schawuot, wenn in Eretz Jisrael die Weizenernte einsetzt. Unmittelbar damit verbunden ist der vierte Name chag bikkurim, das »Fest der ersten Früchte«: »Auch das Wochenfest sollst du feiern zur Zeit der Erstlinge der Weizenernte« (Ex 34,22). So wie zu Pessach das Omer-Mass der neuen Gerste während des Festes »seiner ersten Ernte» geopfert wurde, so wurden zu Schawuot, dem Ende der Gerstenernte, einst die beiden Schaubrote dargebracht. Diese Opfer sind religiöse Pflichten, die nicht an den Einzelnen gebunden sind, sondern an die Öffentlichkeit. Die fünfte Bezeichnung für Schawuot ist schließlich atzeret. Mischna und Talmud kennen Schawuot unter diesem Begriff als festliche Versammlung des Volkes in Erinnerung daran, dass die Pilger, die einst nach Jerusalem kamen, das Fest dort gemeinsam begingen.
In aschkenasischen Gemeinden wird zu Schawuot vor der Toralesung die Akdamut (»Vorbereitung«) als eine Art Eröffnung eingeschaltet, ein aramäisches liturgisches Gedicht aus dem 11. Jahrhundert, das die Verfolgung der Juden zur Zeit der Kreuzzüge und ihr Sterben zur Heiligung Gottes beschreibt und so im Sinne von Schawuot Ausdruck von Israels Treue zur Tora ist. Ein weiterer Brauch ist es, in der Schawuotnacht wach zu bleiben und gemeinschaftlich Kapitel aus der Tora, der Mischna, der Gemara und dem Sohar zu lesen. Dieser Brauch der Lernnacht, tikkun leil schawuot, hat seinen Ursprung in der Mischna, die erzählt, dass die Israeliten die Übergabe der Tora vernachlässigt hätten, weil sie in der Nacht zuvor schliefen und Mosche sie mehrmals wecken musste. Selbstverständlich findet auch am Abraham Geiger Kolleg dieses Jahr wieder eine Lernnacht mit Studierenden und Dozenten statt.
Rabbiner Walter Homolka
_Rabbiner Prof. Dr. Walter Homolka ist Rektor des Abraham Geiger Kollegs an der Universität Potsdam
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