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Säule der Weltgeschichte und verarmtes Provinzkaff

01.Februar 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Kultur

Simon Sebag Montefiore hat eine grandiose 800-Seiten-Liebeserklärung an die »Frau« Jerusalem geschrieben – ein Lesegenuss

Der Londoner Historiker Simon Sebag Montefiore, Nachfahre von Sir Moses Montefiore, dem Stifter der fotogenen Jerusalemer Windmühle, und spätestens seit seiner Stalin-Biographie »Am Hof des Roten Zaren« endgültig im Olymp der Geschichtsbestseller-Autoren angelandet, hat sich ein neues Objekt der Begierde vorgenommen: die Stadt der Städte – Jerusalem. Welch ein Glück, denn Montefiore ist ein begnadeter Rechercheur mit einem Blick für Wesentliches, der Fähigkeit, sich in dem Labyrinth, das Jerusalems Geschichte ausmacht nicht zu verlaufen und einem Gespür für all das Absurde, Skurrile, Megalomanische, das die Stadt und ihre Bewohner seit je umgibt.

Sebag Montefiore ( Jerusalem. Die Biographie. S. Fischer, 912 S., 28 Euro) breitet in neun Kapiteln ein buntes, schreckliches Riesenpanorama vor uns aus, von den jüdischen Anfängen, David und Salomo, den Königen von Juda, über Nebukadnezar, die Perser, die Schreckensherrschaft Titus‘, die jüdischen Kriege, die Massaker der Kreuzritter an Muslimen und Juden, die Ermordung der Jerusalemer Priester durch die Tataren 1244, die Eroberung durch die Osmanen samt 300jährigem langsamen Verfall der Stadt – und so fort bis zum Imperialismus und dem letzte Kapitel Zionismus. Montefiore endet – nach der Balfour Deklaration von 1917, General Edmund Allenby, Lloyd George und endlich der UNO und den USA – bei der Rückeroberung der Stadt 1967 und einem Epilog, der resignierend auch festhält: »Jerusalem lebt heute in einem schizophrenen Angstzustand«, der all seine Bevölkerungsgruppen betrifft. Dabei wird klar, Fanatismus und Gewalt hat es hier immer gegeben. Auch die Gewalt zwischen den christlichen Konfessionen – Prügeleien zwischen Armeniern, Griechen, Syrern, Katholiken oder Kopten – ist weit älter als alle Konflikte zwischen Palästinensern und Israelis.

Montefiore versucht das Paradox zu klären, warum diese spirituellste Stadt der Welt, die den drei monotheistischen Religionen  gleichermaßen heilig ist, zugleich ein solcher Hort von Blut und Gewalt ist. Er zeigt, dass es dabei zum einen um die Kontrolle geht, die jeder der Religionen seit je über Jerusalem besitzen möchte, und zum anderen darum, dass sie alle – von Jesaja und Daniel, über Johannes bis zu den Autoren des Koran – die Stadt mystifizieren, sie zu einem Symbol machen, zum Anfang und zum Ende, zur Stadt des irdischen und des Himmel-Reiches. Damit besitzt sie auch ein starkes irrationales Potential. Und das einzige, was hier klar als Lehre erscheint, ist, dass alle Versuche, welcher Religion auch immer, Jerusalem zu dominieren, scheitern. Aber das wusste schon Herzl, dass Jerusalem-Jeruschalaim-Al Quds keinem und jedem gehört, dass es für die Gläubigen der Ort ist, an dem Gott Adam erschaffen hat und an dem Jesus starb und von dem Mohammed in den Himmel aufstieg etc.

Der Historiker hangelt sich chronologisch an zahllosen Quellen, Daten, Fakten, Ereignissen und vor allem den militärischen und politischen Führern, die Jerusalem erobert, niedergebrannt, belagert, geschändet, geschmäht und geführt haben durch die 3000-jährige Geschichte des heiligen wie des profanen Konstrukts. Montefiore erzählt die Geschichte dieser ewig fremdbeherrschten, »meist verarmten Provinzstadt im Bergland Judäas« als Biographie (einer Frau – schon die biblischen Propheten nannten Jerusalem eine Frau) und als Geschichte von Clans und Familien, die eingebettet ist auch in die (damalige) Weltgeschichte von der Vertreibung der Juden aus Spanien bis zu England Cromwells. Er webt ein feinmaschiges Netz um das ständige Auf und Ab dieser Stadt und ihrer Beherrscher und Bewohner – Könige, Propheten, Heilige und Huren, Macher und Schachfiguren, Spinner, Betrüger und Hasardeure

Die Montefiore Windmühle von 1858 im Jerusalemer Stadtteil Jemin MoshePerspektivische Jerusalem-Karte von 1447

Kleopatra, Caligula, Hanibal, Nero, Saladin, Richard Löwenherz – Personal wie aus einem Hollywoodschinken in Breitwand-Technicolor und Namen wie aus einem Monty-Python-Klassiker: Chalid das Schwert Gottes, Zengi der Blutige, Ahmed der Schlächter, Kafur der duftende Eunuch, Kress von Kressenstein, Omar der Gerechte, Selim der Gestrenge, Fulk der Zänker oder Gnaeus Pompejus. Helden und obskure Gestalten, deren Taten und Affären Montefiore auch genüsslich weiterplaudert. So soll die Grabeskirche »ein einziges Freudenhaus« gewesen sein und der deutsche Ritter Arnold von Harff habe die für ihn wichtigsten Sätze in Arabisch und Hebräisch gelernt: »Willst Du mir das geben? / Bist du Jude ? / Frau, lass mich diese Nacht bei Euch schlafen / Ich will dir einen Gulden geben.«

Fürst Potemkin wiederum sah die Befreiung Jerusalems als seine Pflicht an und gründete 1787 das jüdische Kavallerieregiment »Israelowski«; allerdings starb er, bevor er den Retter geben konnte. Die dicke Caroline von Braunschweig (dazumal Noch-Ehefrau des späteren Georg IV.) hingegen konnte sich rühmen als erste Prinzessin nach 600 Jahrhunderten Jerusalem zu besuchen und ließ es sich nicht nehmen, auf einem Esel einzureiten, ausstaffiert »mit einer Perücke, künstlichen Augenbrauen und falschen Zähnen«, so der Chronist. Ein paar Generationen später fielen die Besucher weniger romantisch aus. Für Benjamin Disraeli waren die hiesigen Juden »Araber auf Pferden« und Karl Marx befand, dass »nichts dem Elend und Leiden der Juden in Jerusalem gleicht«, während Mark Twain anmerkte: »Aussätzige, Krüppel, Blinde und Schwachsinnige überfallen einen von allen Seiten«.

Man lernt von Sebag Montefiore nicht nur viel über verschiedene Perspektiven und wirkliche Multikulturalität, sondern vor allem über die Abgründe menschlichen Trachtens – Mord, Erpressung, Eifersucht, Ränkespiel und Kalkül am laufenden Band, durch alle Religionen, Schichten, Völker, Zeiten. Und Herodes war dabei eben nicht nur ein Judenschlächter, sondern auch ein Baumeister. Unter ihm oder Kaiserin Helena, unter Kalif Abd al-Malik, der klugen Königin Melisende oder Süleyman dem Prächtigen entstanden berühmte Bauten, wie erst wieder in der britischen Mandatszeit, als das King David Hotel, die Universität, das Hadassah Hospital entstanden und die jüdische und arabische Mittelschicht es sich in Rehavia oder Talpiot gut gehen ließ und die Kaffeehäuser bevölkerte. Sogar Wilhelm Zwo hinterließ Reviermarkierungen: zwei riesige Kirchen und das Auguste-Viktoria-Krankenhaus auf dem Ölberg.

Dabei ist in dieser Stadt beinahe nichts, was es scheint. Was Synagoge war wurde Kirche oder Moschee, was Kapelle war Kaserne, jeder Felsen ist mehrfach ideologisch besetzt. Alle, so Montefiore, übernahmen die Mythen und Bauten ihrer Vorgänger und bastelten sie für die eigenen Zwecke um. Seit König David war Jerusalem beinahe durchgängig jüdisch besiedelt (zum Ende des Osmanischen Reichs sogar mehrheitlich) und die Juden waren auch die ersten, die den ursprünglich vermutlich kanaanitischen Opferplatz zu ihrem Ort machten und mit Sinn aufluden. Alle, die folgten – Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen, Römer, Mamelucken, Kreuzfahrer, Araber, Osmanen, Briten, wieder Juden – betrachteten die Stadt und ihre Historie jeweils als ihr exklusives Eigentum und verteidigten sie brutal unter dem monotheistischen Banner der einzig gültigen Wahrheit. Niemand will oder kann verzichten. In einem Interview sagt Montefiore, der auch schreibt, dass es allein im 20. Jahrhundert 40 gescheiterte Pläne für die Zukunft der Stadt gegeben hat: »In vierzig Jahren wird die Stadt entweder friedlich von Juden und Arabern gemeinsam bewohnt werden – oder sie wird zerstört sein.«

Judith Kessler