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Rosch Haschana 2021
01.September 2021 | Beiträge – jüdisches berlin | Kultur
Gedanken zum Neujahrsfest von Gemeinderabbinerin Gesa Ederberg
Zum zweiten Mal bereiten wir uns auf Rosch Haschana unter Pandemiebedingungen vor, wieder steigen die Zahlen und wieder schauen wir auf die Inzidenz und wieder fragen sich viele, ob sie an Rosch Haschana und Jom Kippur überhaupt in die Synagoge kommen wollen oder nicht.
Oder wie es mit dem Kiddusch an Rosch Haschana laufen soll und dem Anbeißen nach Jom Kippur?
Jetzt leben wir seit anderthalb Jahren in der Ausnahmesituation, auf Englisch spricht man von »New Normal« – der neuen Normalität. Kitakinder erinnern sich nicht mehr, wie es vor der Pandemie war, und selbstverständlich steckt man beim Losgehen nicht nur die Maske, sondern auch den Impfnachweis ein. Und genau das macht Rosch Haschana dieses Jahr so schwierig. Letztes Jahr haben wir uns zu den Feiertagen nach langen Wochen des Lockdown zum ersten Mal wieder gesehen, und noch selten die Bitte um ein »Schana Towa u-Metuka«, ein gutes und süßes Jahr, so inbrünstig ausgesprochen, und den Wunsch »und vor allem Gesundheit« hinzugefügt. Und das Unetane Tokef Gebet, das in der Zeit der mittelalterlichen Judenverfolgungen geschrieben wurde, hat noch nie so wahr geklungen: Du, Gott, entscheidest, »wer wird leben und wer wird sterben, wer am Ende eines erfüllten Lebens und wer viel zu früh, wer durch Hunger und wer durch eine Seuche«.
Im Monat Elul geben wir uns Rechenschaft, und am Nachmittag von Rosch Haschana werfen wir beim Taschlich-Gebet symbolisch unsere Sünden des vergangenen Jahres ins Wasser. Ich habe immer betont, dass wir dabei einen umfassenden Begriff von Sünde benutzen sollen: Nicht nur direkte »Gesetzesverstöße«, sondern gerade auch
Erlebnisse, in denen wir es einfach nicht geschafft haben, uns richtig zu verhalten, wo wir andere vernachlässigt haben, wo wir versäumt haben, Kranke zu besuchen oder andere Mizwot zu tun, wo wir aus Ungeduld einen Streit angefangen haben, und keine Kraft zur Versöhnung hatten. Alles das lassen wir vor unserem inneren Auge vorüberziehen, wenn wir am Ufer der Spree stehen und die Brotkrümel in der Hand haben.
Und für die Kinder habe ich es immer so formuliert: Überlegt mal, was im letzten Jahr blöd gelaufen ist, wo euch etwas Schlimmes passiert ist, oder wo ihr nicht verhindert habt, dass jemandem anderen etwas Schlimmes passiert. Wo ihr Fehler gemacht habt und wo ihr unfair oder ungerecht wart. Und das ist das tolle an Rosch Haschana: Jetzt können wir das alles »wegwerfen«, wie die Brotkrümel ins Wasser, und wieder neu anfangen.
Als ich vor einigen Tagen die Schulkinder gefragt habe, was denn im letzten Jahr schlecht war, und was sie gerne wegwerfen würden, bekam ich nur Antworten rund um Corona: Das Maskentragen, den Online-Unterricht, dass man die Großeltern nicht sehen konnte, dass man die Verwandten in Israel nicht besuchen durfte. Und ich fühlte mich ehrlich gesagt, ziemlich hilflos – denn meine jährliche Ermutigung, das alles symbolisch wegzuwerfen und die Chance auf einen Neuanfang zu nutzen, funktioniert ja dieses Jahr nicht, nicht nur für die Kinder, sondern auch für uns Erwachsene. Die Pandemie prägt weiterhin unseren Alltag und es ist nicht abzusehen, inwieweit das neue jüdische Jahr besser sein könnte als das alte, von »gut« und »süß« ganz zu schweigen. Weniger als je haben wir es als Einzelne in der Hand, wie es uns ergehen wird – auch wenn klar ist, wie wichtig der Beitrag von jedem einzelnen ist, um die Pandemie in den Griff zu bekommen.
Es bleibt uns in diesem Jahr nichts anderes übrig, als einfach anzuerkennen, was wir alles nicht geschafft haben, wo wir unsere eigenen Erwartungen enttäuscht haben, wo wir Familie und Freunden etwas schuldig geblieben sind, aus Überforderung oder Erschöpfung, und uns das gegenseitig zu verzeihen. Genau hinzuschauen, ja, und die eigenen Ziele zu überdenken und die Erwartungen an uns selbst und die Menschen um uns herum anzupassen. Vielleicht ist genau das die Herausforderung und die Aufgabe für dieses neue Jahr: Auch wenn wir das Alte nicht wirklich loswerden können, irgendwoher die Kraft zu finden, nach vorne zu schauen, und die nächsten Schritte zu gehen, im Kleinen wie im Großen, damit es doch, wenigstens an manchen Orten und zu manchen Zeiten, ein gutes und
süßes Jahr wird.
jüdisches berlin
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