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Reine Welt des Geistes und Verantwortung für die Natur
01.Februar 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
Rabbinerin Gesa Ederberg über Steuerstichtage, Bäumepflanzen, Ökologie und die Analogien zwischen Tubischwat und Pessach
In der Mischna, dem Grundtext der rabbinischen Literatur, ist noch nicht einmal klar, ob es Tubischwat überhaupt gibt. Dort heißt es: »Am ersten Tischri ist das Neujahr der Bäume, so Bet Schammai, aber Bet Hillel sagt: am fünfzehnten des Monats« (aus Mischna Rosch haSchana 1,1).
Tubischwat bedeutet wörtlich »der fünfzehnte Tag des Monats Schwat«, wobei sich die fünfzehn aus dem Zahlenwert der Buchstaben Tet = 9 und Waw = 6 zusammensetzt – wenn also Bet Schammai recht behalten hätte, würde Tubischwat nicht einmal so heißen! Was ist das für ein Tag, der einfach nur nach seinem Datum benannt wird?
Das rabbinische »Neujahr der Bäume« ist ganz einfach ein Stichtag für die Steuer, um festzulegen, ab wann für einen Baum Abgaben fällig sind – und wir haben keinerlei Hinweise für weitere Bräuche oder Feiern, die ursprünglich mit diesem Tag verbunden waren. Selbst seine Bedeutung für die Berechnung der Steuer verlor TubiSchwat als es über Jahrhunderte keine jüdischen Landwirte im Lande Israel mehr gab.
Erst im sechzehnten Jahrhundert haben Flüchtlinge aus Spanien in Sfat, im Norden Israels, diesen Tag besonders begangen. Alle heutigen Bräuche haben sich aus dieser Feier entwickelt. Diese Kabbalisten haben einen »Seder Tubischwat« nach dem Muster des Pessach-Seders gefeiert, der die Symbolik von Wein und Früchten nutzt. Vier Gläser Wein unterschiedlicher Färbung symbolisieren den Aufstieg von der materiellen zur geistigen Welt. Einzelne Früchte des Landes Israel werden diesen geistigen Stufen jeweils zugeordnet.
Von Sfat aus hat sich der Brauch eines Tubischwat-Seders schnell verbreitet, wirklich universal akzeptiert wurde aber nur das Essen von Früchten zu Tubischwat, ohne dass es eine dazugehörige Feier gegeben hat. Mit dem Beginn der modernen Einwanderung in das Land Israel und den verbesserten Handelswegen bildete sich der Brauch, zu Tubischwat Früchte zu essen, die tatsächlich im Lande Israel gewachsen waren. Um sie bis zu ihrer Ankunft in Sibirien oder Kalifornien haltbar zu machen, wurden sie natürlich getrocknet.
Ein weiterer Schritt war dann gegen Mitte des vergangenen Jahrhunderts das Pflanzen von Bäumen zu Tubischwat im Rahmen der zionistischen Aufforstung des Landes: Tubischwat ist der Tag des Bäumepflanzens, an dem der Keren Kajemet seine jährliche Kampagne beginnt. Vor etwa dreißig Jahren begann dann noch einmal eine neue Entwicklung, als jüdische Aktivisten der Ökologiebewegung entdeckten, dass sich das Thema Naturschutz gut in einen Seder für Tubischwat integrieren lässt.
Über diese drei Gruppen der Mystiker, der Zionisten und der Ökologen hinaus ist Tubischwat heute auch populär geworden, weil jedes Kind, das in Israel oder mit einem jüdischen Kindergarten aufgewachsen ist, voller Stolz zu Tubischwat das erste Mal ein Pflänzchen oder sogar ein echtes Bäumchen in die Erde gepflanzt hat.
TubiSchwat ist für mich ein wunderbares Beispiel, wie wir Juden nicht nur die überlieferten Feste feiern, in denen die Grunderfahrungen jüdischer Existenz abgebildet sind und immer wieder erinnert werden, sondern auch für neue Bedürfnisse Raum in und mit der jüdischen Tradition finden. Sie werden aber nur dann zu guten jüdischen Bräuchen, wenn sie zur Tradition passen, sie ergänzen, ohne sie zu schädigen. Deshalb möchte ich jetzt noch kurz versuchen, die Bedeutung der heutigen Tubischwat-Feiern mit der Tradition zu vergleichen.
Alle drei echten Chagim – Pessach, Schawuot und Sukkot – verbinden ein landwirtschaftliches Thema, die Erntezeit für bestimmte Pflanzen, mit einem historischen Thema aus der Geschichte des jüdischen Volkes. Da die Kabbalisten in Sfat sich den Pessach- Seder zum Vorbild genommen haben, liegt es nahe, Pessach- und Tubischwat-Seder miteinander zu vergleichen.
Mit der Feier des Pessach-Seders nehmen wir jedes Jahr wieder an der Befreiung unseres Volkes aus Ägypten teil. Wer sich nicht immer wieder an diesen Aufbruch aus der Sklaverei erinnert, als ob er selbst dabei gewesen sei, der ist, so sagt die Tradition, auch nicht befreit, sondern eigentlich noch immer Sklave in Ägypten. Dieser Aufbruch wird von den Kabbalisten spiritualisiert, denn die physische Realität ist ihnen stets weniger wichtig als die höhere Welt des Geistes.
So ist es auch bezeichnend, dass beim Aufstieg von der physischen Welt der »Assija«, an die mit dem ersten Becher Wein erinnert wird, bis zur rein geistigen Welt der »Azilut« des vierten Bechers, die Früchte des Landes verlorengehen. In der höchsten, rein geistigen Welt gibt es keine Früchte mehr und es gibt in ihr offenkundig auch keinen Bedarf mehr für das physische Land Israel. Die Kabbalisten waren Tausende von Kilometern unter großen Gefahren ins Land Israel gezogen, dessen physische Realität ihnen aber nun sekundär geworden war. Ein größerer Kontrast zu den zionistischen Bäumepflanzern im Lande ist kaum denkbar.
In der Tora wird immer wieder auf die Befreiung aus Ägypten Bezug genommen, die wir zu Pessach erinnern. Aus unserer Befreiung sollen wir Solidarität mit anderen schöpfen, die noch nicht befreit sind. Vielleicht liegt ja gerade in der aufgezeigten Widersprüchlichkeit der heutigen Art Tubischwat zu feiern, die Wurzel für eine vielversprechende Entwicklung. Wenn wir die Innenperspektive der nationalen Befreiung (Pessach) mit dem Aufstieg in die reine Welt des Geistes der mystischen Gemeinde (im Tubischwat der Kabbala) und die Verantwortung für Gerechtigkeit (Pessach) mit der Verantwortung für die Natur (im Tubischwat der Ökologie) verbinden. Die Rolle des Landes allgemein und des Landes Israel im Besonderen ist es, ein reales Bindeglied zwischen uns und den Völkern zu sein. Zu Pessach ist das Land Israel das Ziel. Dort soll sich Israel durch die Sorge auch für andere als der Befreiung aus Ägypten für würdig erweisen. An Tubischwat ist das Land Israel der Anker, der die Mystiker an ihre Verantwortung für die physische Welt erinnert.
Schon in der ersten Erwähnung von Tubischwat lässt sich solch ein reales und soziales Element entdecken. Worauf beruht die Meinungsverschiedenheit von Bet Schammai und Bet Hillel bezüglich des Termins für das Neujahr der Bäume am ersten oder fünfzehnten Tag des Monats Schwat? Bet
Schammai waren eher die Reichen, während Bet Hillel eher die Ärmeren waren, deren Bäume auf ärmeren und höheren Böden standen. Deshalb war tatsächlich der Termin der Blüte und damit des Neujahrs der Bäume für die Anhänger von Hillel und Schammai tatsächlich verschieden. Die praktische Halacha folgt Bet Hillel – nimmt also Rücksicht auf die Bedürfnisse der Armen und Benachteiligten.
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