Beitragssuche

Datum / Zeitraum:
Beitragsart:
Kategorie:

Rede zum 65. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz

27.Januar 2010 | Redaktioneller Beitrag | Gedenken

von Dr. Jochen Palenker, Mitglied des Vorstandes der Jüdischen Gemeinde zu Berlin

Sehr geehrter Herr Kulturstaatssekretär, lieber André Schmitz,
sehr geehrter Herr Gesandter Polens Wojciech Pomianowski
sehr geehrte Frau Vorsitzende, liebe Lala,
liebe Gemeindemitglieder,
sehr geehrte Damen und Herren,

heute vor 65 Jahren, am 27. Januar 1945, traf die 322. Division der Roten Armee am frühen Nachmittag im Hauptlager des Konzentrationslagers Auschwitz ein.

Auschwitz war Schauplatz eines Massenmordes, wie ihn sich die Menschheit bis dahin nicht vorstellen konnte. Das Lager war, auf Befehl des Reichsführers SS Heinrich Himmler, im Mai 1940 im okkupierten Polen errichtet worden. 

In Birkenau, etwa zwei Kilometer vom Stammlager entfernt, wurde im Herbst 1941 mit dem Bau eines weiteren großen Komplexes begonnen, für Häftlinge, die Zwangsarbeit leisten sollten. An billigen Arbeitskräften waren deutsche Konzerne interessiert, die sich dort ansiedelten, wie beispielsweise die IG-Farben. Im Herbst 1941 begann dann die bis ins Detail geplante Deportation der Juden aus Deutschland mit dem Ziel, sie zu ermorden. 

Auschwitz-Birkenau wurde zum Zentrum der Massenvernichtung für Juden aus ganz Europa. Die Zahl der Opfer lag zwischen 1,1 und 1,5 Millionen Menschen, in ihrer überwiegenden Mehrheit Juden.

So wurde die Hölle Auschwitz zum Inbegriff für den Versuch der Nazis, die europäischen Juden zu vernichten, zum Synonym der industriellen Massenvernichtung, der Ermordung von 6 Millionen jüdischen Menschen, der Schoa. 

"Gleich am Bahnhof wurde man sortiert, in arbeitsfähig und in nicht arbeitsfähig. Frauen mit Kindern und Männer, die Krankheiten oder irgendwelche Gebrechen hatten, wurden auf Autos geladen, von denen wir nicht wussten, wohin sie fuhren."
berichtete die Jüdin Charlotte Grunow im April 1945 dem Deutschen Dienst der BBC über die Gräuel, die sie in Auschwitz erlebt hatte.
"Im Lager selbst hörten wir dann erst, dass diese Leute alle in das Gas gegangen sind, eine Sache, die man sich kaum vorstellen kann, wenn man nicht diesen schrecklich roten Himmel tagtäglich vor sich gesehen hat und gewusst hat, dass dort nicht nur Kranke, sondern blühende junge Menschen, die ein kleines winziges Fleckchen am Körper hatten, hingegangen sind."

So wurden rund 900.000 Menschen, die mit Viehwaggons aus ganz Europa an diesen Ort gebracht worden waren, unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet.

Weitere 200.000 Menschen wurden von der SS durch Arbeit, Misshandlungen oder medizinische Versuche, die sogenannte Forschung des Dr. Mengele und seiner Kollegen, vernichtet.

Auschwitz steht für den Einsatz des Giftes Zyklon B, mit dem Hunderttausende in Gaskammern getötet wurden. Das Wachpersonal trieb die Neuankömmlinge in die Gaskammern. Wer nicht durch Gas oder medizinische Versuche umgebracht wurde, wurde in eines der vielen Außenlager des KZ Auschwitz als Arbeitskraft eingesetzt und durch schwere Arbeit mit kargen Essenrationen vernichtet.

Als die Ostfront näher rückte, versuchte die Lager-SS alle Beweise für die Verbrechen zu vernichten. Die Tötungsanlagen wurden demontiert oder zerstört. Die Rote Armee, die am 12. Januar 1945 eine Großoffensive begonnen hatte, kam schneller voran als erwartet. Die SS-Führung beschloss daraufhin, das Lager aufzulösen: Die Häftlinge, die noch gehen konnten, wurden auf Todesmärsche gen Westen geschickt. Das Krematorium V blieb bis in die letzten Tage betriebsbereit, erst in der Nacht auf den 26. Januar wurde es gesprengt.

Die sowjetischen Soldaten stießen auf Hunderte von Leichen. 7000 Häftlinge, entkräftet und krank, waren noch am Leben.

So erinnerte sich Jakow Wintschenko, einer der Soldaten der Roten Armee, die das Vernichtungslager Auschwitz befreiten:"Es war kein Wachtraum, ein lebender Toter stand mir gegenüber. Hinter ihm waren im nebligen Dunkel Dutzende anderer Schattenwesen zu erahnen, lebende Skelette. Die Luft roch unerträglich nach Exkrementen und verbranntem Fleisch. Ich bekam Angst, mich anzustecken, und war versucht wegzulaufen. Und ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ein Kamerad sagte mir, wir seien in Auschwitz. Es war uns klar, dass etwas Schreckliches über diesem Ort lag: Wir fragten uns, wozu all die Baracken, die Schornsteine und die Räume mit den Duschen gedient hatten, die einen seltsamen Geruch verströmten. Ich dachte an ein paar Tausend Tote - nicht an Zyklon B und das Ende der Menschlichkeit."

Heute nach 65 Jahren, zu einem Zeitpunkt wo uns nur noch wenige Holocaust-Überlebende als Zeitzeugen zur Verfügung stehen, ist es an uns, jüdischer Minderheit wie nichtjüdischer Mehrheitsgesellschaft, die Erinnerung lebendig zu halten. „Nie wieder!“, das haben wir uns geschworen.

Lassen Sie mich, ehe ich zum Abschluss ein kleines Gedicht von ihm zitiere, an Primo Levi erinnern, der die Hölle von Auschwitz überlebte und wie so viele andere, hier sei nur an Tadeusz Borowski als anderes Beispiel erinnert, diesen Erlebnissen verzweifelte.  Borowski, polnischer (nichtjüdischer) Patriot, dessen Buch „Bei uns in Auschwitz“ seit ca. 2 Jahren auf Deutsch erhältlich ist, wählte bereits in den 50er Jahren den Freitod durch Gas. Zurück zu Levi: Erst im Februar 1944 mit 650 anderen italienischen Juden in Auschwitz angekommen, überlebte er als einer von fünf.

Als Chemiker in den Buna-Werken, konnte er den schlimmsten Arbeitsbedingungen im Winter 1944/45 entgehen. Dennoch erkrankte er wenige Tage vor der Befreiung des Lagers an Scharlach und wurde in den sogenannten „Krankenbau“ verlegt, und entging somit den Todesmärschen.

In seinem letzten Buch, Die Untergegangenen und die Geretteten, das 1986 ein halbes Jahr vor seinem Tod erschienen ist, betont er ausdrücklich (und hierauf bezieht sich die Unterscheidung zwischen den „Untergegangenen“ und den „Geretteten“ im Titel): „Nicht wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen. Das ist eine unbequeme Einsicht, die mir langsam bewusst geworden ist, während ich die Erinnerungen anderer las und meine eigenen nach einem Abstand von Jahren wiedergelesen habe. Wir Überlebenden sind nicht nur eine verschwindend kleine, sondern auch eine anomale Minderheit; wir sind die, die aufgrund von Pflichtverletzung, aufgrund ihrer Geschicklichkeit oder ihres Glücks den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt haben. Wer ihn berührt hat, konnte nicht mehr zurückkehren, um zu berichten, oder er ist stumm geworden.“

Ist das ein Mensch?
Ihr, die ihr gesichert lebet
in behaglicher Wohnung,
Ihr, die ihr abends beim Heimkehren
Wärme, Speise findet und vertraute Gesichter:
Denket, ob dies ein Mann sei,
Der schuftet im Schlamm,
Der Frieden nicht kennt,
Der kämpft um ein halbes Brot,
Der stirbt auf ein Ja oder Nein.
Denket, ob diese eine Frau sei.
Die kein Haar mehr hat und keinen Namen,
Die zum Erinnern keine Kraft mehr hat,
Leer die Augen und kalt ihr Schoß
Wie im Winter die Kröte.
Denket, dass solches gewesen.
Es sollen sein, diese Worte in eurem Herzen.
Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet
In einem Hause, wenn ihr geht auf euren Wegen,
Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht;
Ihr sollt sie einschärfen euern Kindern.
Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen,
Krankheit soll euch niederringen,
Eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.

Wir, die Kinder der Holocaust-Überlebenden, aber auch die Enkel, Urenkel, Großnichten und -neffen der Opfer verneigen uns vor den vielen von den Nazis ermordeten und gequälten Menschen.

Rede zum 65. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz