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Rede der Gemeindevorsitzenden Lala Süsskind

27.Oktober 2010 | Redaktioneller Beitrag | Gemeinde, Politik

Anlässlich des Besuches der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum Thema "20 Jahre Wiedervereinigung - auch eine Erfolgsgeschichte für Jüdische Gemeinden"

 

Liebe Mitglieder und Gäste der Jüdischen Gemeinde zu Berlin,
bitte begrüßen Sie mit mir:

Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel,
Ihre Excellenzen den Botschafter des Staates Israel Yoram Ben-Zeev,
und den Botschafter des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland Simon McDonald, sowie alle Vertreter des diplomatischen Korps,
stellvertretend für alle heute hier vertretenden Religionsgemeinschaften,
Landesbischof Dr. Markus Dröge und seine Frau,
meine Kollegen aus dem Präsidium und aus dem Direktorium des Zentralrates der Juden in Deutschland Hanna Sperling und Wolfgang Nossen,
den Parlamentarischen Geschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, Volker Beck, sowie alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages und unseres Landesparlamentes,
den Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes  Michael Sommer und seine Frau,
sehr geehrte Vertreter der mit uns verbundenen Institutionen und Stiftungen,
liebe Ruth Galinski,
sehr geehrte Damen und Herren Rabbiner,
sehr geehrte Mitglieder des Vorstandes und der Repräsentantenversammlung!

Seien Sie alle sehr herzlich willkommen!

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, es ist uns eine große Freude und Ehre, Sie heute Abend – stellvertretend für alle Jüdischen Gemeinden – bei uns zu Gast zu haben.

Als ich mein Amt als Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde vor fast drei Jahren übernommen habe, war eines meiner Ziele, die Integration der Zuwanderer voran zu bringen. Und ich glaube, dass wir vieles erreicht haben,

einiges wird noch Zeit brauchen, anderes wird vielleicht nie umzusetzen sein. Aber insgesamt hat sich in den letzten zwanzig Jahren in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, seit der Wiedervereinigung viel verändert, nicht nur in der Berliner Gemeinde, dass ich heute die Gelegenheit nutzen möchte, um zwei Dinge zu tun:

Ich möchte  daran erinnern, dass die jüdischen Einrichtungen in Deutschland sehr viel  staatliche Unterstützung durch die Länder und durch den Bund erhalten haben.

Dafür möchte ich Ihnen, liebe Frau Bundeskanzlerin, stellvertretend für diese Institutionen, heute danken.

Ich möchte  auch einmal den Blick heben – weg von der großen Politik– und dann sehe ich die Menschen meiner Gemeinde.

Die meisten von ihnen sind Einwanderer. Einige kamen direkt nach dem Ende des Naziregimes, viele ende der Siebziger Jahre, die meisten jedoch nach 1990 in die Bundesrepublik. Ich sah, wie sie waren, als sie ankamen und ich sehe, wie sie heute sind. Viele kamen mit einem Koffer, mittellos, die meisten persönlichen Dinge mussten sie zurück lassen.

Den meisten dürfte es nicht leicht gefallen sein, ihr Land zu verlassen, in dem sie aufgewachsen sind. Einige haben es nicht so gut geschafft, sich hier zu etablieren. Aber die Mehrzahl ist angekommen. So lautet auch der Titel des Films von Levi Salomon, den Sie am Ende der Veranstaltung sehen werden. Er zeigt uns erstaunliche Lebensläufe und wunderbare Erfolgsgeschichten, die uns stolz machen. Für diese Menschen hat sich das Risiko, alles aufzugeben und hier neu anzufangen, gelohnt.

Schon in den siebziger Jahren hatte es eine kleinere Auswanderungswelle von Juden aus Osteuropa und der UdSSR gegeben, aber beispielsweise auch aus dem Iran.

In den 90er Jahren verließen dann rund 1,5 Millionen Juden die ehemalige Sowjetunion. Etwa eine Million Menschen gingen nach Israel. Rund 220.000 Zuwanderer – Juden und ihre Familienangehörigen – kamen nach Deutschland, eine kleine Gruppe im Vergleich zu den etwa zwei Millionen deutschen Spätaussiedlern, die die Bundesrepublik aufgenommen hat.

Hergeführt hat sie alle die Flucht vor dem Chaos, als sich die ehemalige Sowjetunion auflöste, die wirtschaftlichen Probleme und der in ihrem Schatten wachsende Antisemitismus.

Es gab viel Unverständnis und Kritik in der jüdischen Welt, dass Juden ausgerechnet nach Deutschland einwanderten. Im Jahr 2004 kamen sogar mehr Juden aus der GUS nach Deutschland als nach Israel. Auch das hatte viele Gründe: unter anderem die Angst vor einem weiterhin unruhigen Leben im von einigen seiner Nachbarn bedrohten Israel.

Ich meine, es muss  jedem selbst überlassen werden, wo er sein Leben führen möchte. Die Solidarität mit Israel, die Sicherheit seiner Bürger und die Hoffnung auf Frieden für dieses Land bleiben für alle Jüdischen Gemeinden selbstverständlich.

Unabhängig davon war für die Diaspora-Gemeinschaft die Zuwanderung enorm wichtig.

Dazu ein paar Zahlen: 1933 lebten rund 500.000 Juden in Deutschland, davon allein  rund 160. 000 in Berlin.

1945 gab es noch 6.000 bis 8.000 Juden in Berlin. Einige von ihnen hatten als „U-Boote“ versteckt überlebt, die meisten waren so genannte DPs, Displaced Persons, durch Krieg, Verschleppung oder Gefangenschaft heimatlos gewordene Menschen, die nach Berlin kamen. Sie wurden von den Vereinten Nationen in Auffanglagern betreut. Zu ihnen gehörten auch meine Eltern. Wir kamen 1947 nach Berlin. Wie viele andere Juden wollten wir eigentlich nur Zwischenstation machen, aber dann blieben wir. Auch in anderen großen Städten wie Frankfurt, München und Hamburg etablierten sich kleine jüdische Gemeinden. Doch bis zur Wiedervereinigung gab es nur in größeren Städten Jüdische Gemeinden. Alle zusammen zählten etwa 28.000 Mitglieder. Und diese Zahl stagnierte - denn damals wie heute sind Sterbefälle in den Jüdischen Gemeinden immer noch häufiger als Geburten.

Zur Wendezeit gab es rund 6.000 Gemeindemitglieder in West- und 200 in Ost-Berlin. Die Vereinigung der beiden jüdischen Gemeinden hätte allein also noch keinen Aufschwung gebracht. Die wenigen Mitglieder der Ostberliner Gemeinde waren ohnehin skeptisch über die Vereinigung mit der Westgemeinde. Nach einiger Zeit begannen aber auch sie die vorhandene Infrastruktur der "großen Schwester" zu nutzen. Und auch die Mitglieder der Westgemeinde hatten anfangs Mühe, ihren Weg in den Osten zu finden. Es hat eine Zeit gedauert, bis schließlich zusammen wuchs, was zusammen gehörte. Heute ist die Neue Synagoge in Mitte als Verwaltungsgebäude der Gemeinde etabliert, das Gemeindezentrum ist weiterhin in Charlottenburg und Synagogen sind über die ganze Stadt in Ost und West verteilt.

Fotos: Boris NiehausFotos: Boris NiehausFotos: Boris NiehausFotos: Boris NiehausFotos: Boris NiehausFotos: Boris NiehausFotos: Boris NiehausFotos: Boris NiehausFotos: Boris NiehausFotos: Boris NiehausFotos: Boris Niehaus

Doch ohne die Menschen, die seit 1990 zugewandert sind, gäbe es heute wohl keine acht Synagogen und keine Jüdische Oberschule. Und auch die Grundschule, der Kindergarten, das Jugend- und Seniorenzentrum, die Jüdische Volkshochschule und Bibliothek würden nicht in dem Maße genutzt, wie sie es heute werden.  

Es war eine gewaltige Aufgabe, in kurzer Zeit eine so große Menge von Zuwanderern aufzunehmen. Aber die Berliner Gemeinde gab und gibt ihr Bestes.

So ist die Sozialabteilung mit ihrem Integrationsbüro die personell am stärksten besetzte Verwaltungseinrichtung. Hier ist die erste Anlaufstelle für Neuankömmlinge und  Spezialisten helfen ihnen bei allen Fragen. Dennoch können nicht alle Erwartungen erfüllt werden.

Die ersten Zuwanderer nach der Wiedervereinigung waren überwiegend im arbeitsfähigen Alter und meist sehr gut ausgebildet. Aber ihre Berufsabschlüsse wurden oftmals nicht anerkannt. Ärzte, Wissenschaftler, Ingenieure blieben erwerbslos oder mussten Arbeitsplätze weit unterhalb ihrer Qualifikation annehmen. Erst jetzt wird dieses Phänomen endlich von der Politik angegangen, für viele leider zu spät auch im Hinblick auf ihre eigene Altersversorgung. Israel hat es geschafft, das Potential der Zuwanderer besser zu nutzen. Das mag einer der Gründe zu sein, warum Israel inzwischen zur Gruppe der führenden Wissenschaftsstandorte gehört.

Erzwungene Untätigkeit und mangelnde Perspektiven hatten natürlich Konsequenzen für die Entwicklung der Immigranten. Rechtlich tat man sich schwer mit ihnen.

Als Juden aus den ehemaligen GUS-Staaten kommend, waren sie erst geduldet, dann "aufenthaltsbefugt", dann wurde ab 1991 das so genannte „Kontingentflüchtlingsgesetz" auf sie angewandt. Nach der Novellierung des Ausländergesetzes gibt es keine Kontingentflüchtlinge mehr und auch die Gesetze für unsere Zuwanderer wurden restriktiver: Zwischen 1993 und 2004 sind pro Jahr durchschnittlich 16.000 jüdische Zuwanderer nach Deutschland gekommen; seit 2005 wurden dann weniger als 1000 Anträge im Jahr positiv beschieden und 2008 sind  noch  rund 1.400 Personen eingereist.

Die große Zuwanderung in die Jüdischen Gemeinden ist damit wohl vorerst beendet.

Von einigen älteren Zuwanderern wird beklagt, dass sie viele Jahre warten mussten, um den Status eines Staatsbürgers zu erhalten. Ihr Leben ist eine traurige Geschichte von Diskriminierung, Flucht und Warten auf Besserung. Für diesen kleinen Personenkreis, von dem die meisten inzwischen hoch betagt sind, würden wir uns wünschen, dass die problematische Rentensituation großzügiger und damit für diese Menschen erträglicher gestaltet werden könnte.

Neben der Lösung sozialer Probleme war und ist für die Jüdischen Gemeinden die eigentliche Herausforderung, den Neuankömmlingen Wissen über das Judentum zu vermitteln. Die wenigsten konnten die jüdischen Riten und Gebräuche ihrer Vorfahren pflegen. In der Sowjetunion galt zudem das Jüdisch-Sein auch nicht als Religions-, sondern als  Volkszugehörigkeit und war im Ausweis eingetragen.

Was die religiöse Integration insgesamt sicher erschwert hat, war die Verteilung der Zuwanderer in kleine Orte, verstreut im ganzen Land. Dort war es viel schwerer, funktionierendes jüdisches Leben zu entwickeln. Für dieses Problem haben der Zentralrat und die Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden das Prinzip der fahrenden Rabbiner entwickelt. Sie halten abwechselnd in verschiedenen, kleinen Gemeinden Gottesdienste ab und betreuen die Gläubigen auf diese Weise.

Doch nun gibt es Hoffnung auf Besserung.

Von den jungen Menschen, die in unseren Einrichtungen herangewachsen sind, haben sich einige entschieden, religiöse Pflichten zu übernehmen. Es ist ein wunderbares Zeichen, dass  in diesem Jahr fünf junge Rabbiner aus dem Zuwandererkreis ordiniert wurden bzw. in wenigen Tagen ordiniert werden. Sie werden so sehr  gebraucht, dass sie schon vor ihrer offiziellen Amtseinführung feste Arbeitsplätze haben. Stolz sind wir darauf, dass drei von ihnen unsere Jüdische Oberschule in Berlin besucht haben.

Das sid echte Erfolgsgeschichten, Erfolge für einzelne, für ganze Familien, aber auch für uns als jüdische Gemeinde, für die Mitarbeiter, für die Menschen, die sie auf diesen Weg begleitet haben.

Aber – das sollten wir nicht vergessen – ohne staatliche Unterstützung wäre vieles nicht möglich gewesen. Mein besonderer Dank gilt den Mitarbeitern und den Ehrenamtlichen, ohne deren unermüdlichen Einsatz unsere Arbeit nicht möglich gewesen wäre.

Einige Sorge bereitet uns der in Deutschland wieder stärker spürbare Antisemitismus, der sich oft als Antizionismus oder auch als Hass auf den Staat Israel tarnt. Hier wünschen wir uns  eine eindeutige Haltung der Bundesregierung und der Abgeordneten, die nicht darin bestehen kann, Israel in Zeiten der Bedrängnis mit einstimmigen Beschlüssen "gute Ratschläge" zu erteilen. Auch sollten die Drohungen des Iranischen Präsidenten ernst genommen werden, der Israel vernichten will und den Holocaust leugnet.

Unsere Zuwanderer haben sich dafür entschieden, Deutschland zu vertrauen. Wir haben uns dafür entschieden, hier zu leben und hier unsere Zukunft aufzubauen. Und wir leben gern in diesem Land.

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben sich immer wieder in klaren Worten eindeutig zur Verantwortung dem jüdischen Volk gegenüber bekannt. Dafür gebührt Ihnen von Herzen Dank!