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Rede anlässlich des Jom Haschoa und des 72. Jahrestags des Aufstandes im Warschauer Ghetto
01.Mai 2015 | Beiträge – jüdisches berlin | Gemeinde
Liebe Gemeindemitglieder,
wir leben heute in einer Wissensgesellschaft. In der regulären Wochenendausgabe einer Tageszeitung ist mehr Wissen enthalten, als sich ein durchschnittlicher Mensch, ein »Otto Normalverbraucher«, noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Laufe seines gesamten Lebens überhaupt aneignen konnte. Je mehr ein Mensch weiß, umso besser versteht er eigentlich alles, egal, ob es sich um Geschichte, Mathematik, Medizin oder um irgendein Hobby handelt. Bei mir persönlich gibt es allerdings zumindest einen Wissensbereich, auf den diese Faustregel nicht zutrifft: Die Schoa, besser bekannt unter dem Namen Holocaust
Beim Thema Schoa bemerke ich bei mir einen gewissen Widerspruch. Mein Wissen über die Schoa wächst zwar jedes Jahr an. Mein Verständnis über die Schoa nimmt jedoch jedes Jahr ab.
Ich verstehe nicht, wie man friedlich in Deutschland lebende Mütter, Väter, Kinder, Großmütter, Großväter, Menschen also, die absolut in der Gesellschaft integriert waren, ermorden konnte, nur weil sie Juden waren.
Ich verstehe nicht, wie man jüdischen Soldaten, die im 1. Weltkrieg bereit waren, ihr Leben für Deutschland zu opfern, nur 20 Jahre später das Leben genommen hat, nur weil sie Juden waren.
Ich verstehe nicht, wie man deutsch-jüdische Schauspieler, Maler, Sänger, Regisseure, Wissenschaftler, Politiker, Unternehmer oder Nationalsportler, wie das ehemalige Mitglied der Fußballnationalmannschaft, Julius Hirsch, ermorden konnte, nur weil sie Juden waren.
Ich verstehe nicht, warum für die Nazis das Ziel, möglichst viele Juden zu ermorden, ebenso wichtig war wie das Ziel, den Krieg zu gewinnen.
Ich verstehe nicht, warum sechs Millionen Juden, darunter 1,5 Millionen Kinder, ermordet wurden.
Es beruhigt und erschreckt zugleich, dass Wissenschaftler, die sich seit Jahrzehnten mit der Schoa befassen, ebenfalls keine Antwort darauf haben. Man kann auf das »Warum?« auch keine Antwort finden, weil es keine gibt. Gäbe es eine Antwort auf dieses »Warum?«, wäre die Schoa ein Völkermord unter vielen. Aber die Schoa sticht heraus. Sie ist einzigartig unter allen Völkermorden.
Bei allen Völkermorden vor und nach dem 2. Weltkrieg ging es um Land, Religion, Reichtümer, Bodenschätze oder auch schlicht um Ehre. Das ist schrecklich genug, aber diese Erklärungsversuche für Krieg, Vertreibung und Mord existieren schon so lange wie es Menschen gibt und dauern bis in die heutige Zeit an, wie erst vor 20 Jahren am Beispiel der Hutus und Tutsi in Ruanda erkennbar wurde.
Um es deutlich zu sagen: Eine Tutsi-Mutter, deren Kind ermordet wurde, leidet genauso wie eine jüdische Mutter, deren Kind in der Schoa ermordet wurde. Ein bosnischer Zivilist der in Srebrenica erschossen wurde, ist genauso unschuldig wie ein jüdischer Zivilist, der in Polen vergast wurde. Was also macht die Einzigartigkeit der Schoa aus?
Die Schoa ist der eindeutige Beweis, dass eine Kulturnation, die zudem wirtschaftlich und wissenschaftlich führend in Europa ist, nur um des Mordens willens bereit sein kann, einer Minderheit über Tausende von Kilometern, über mehrere Ländergrenzen hinweg, nach dem Leben zu trachten – und dies nur aus einem einzigen Grund: Weil diese Minderheit lebt.
Was hatten z. B. Juden im griechischen Saloniki mit der Politik des Deutschen Reichs zu tun? Was für eine Bedrohung waren jüdische Männer, Frauen und Kinder im Warschauer Ghetto oder in Babi Yar in der Ukraine? Inwiefern waren die verfolgten und ermordeten Juden in Griechenland, in Polen, in Russland, im Deutschen Reich, ja sogar in Tunesien oder Libyen auch nur im Entferntesten eine Gefahr für Deutschland? Was hat das Deutsche Reich von diesem mörderischen Wahnsinn gehabt?
In diesen Tagen feiern Menschen weltweit das Ende des 2. Weltkriegs. Bis zu 60 Millionen Umgekommene führt die Statistik für die Jahre 1939 bis 1945 auf. Fast jedes zweite Opfer stammte aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Mehr als 16 Millionen Zivilisten und mehr als elf Millionen sowjetische Soldaten, unter ihnen 200.000 Juden, fielen im »Großen Vaterländischen Krieg«.
Die Jüdische Gemeinde zu Berlin wird vor allem ihnen, aber auch den Soldaten der Alliierten auf Ewigkeit zu Dank verpflichtet sein und sie mit einer Festveranstaltung zum 70. Jahrestag der Beendigung des 2. Weltkriegs am Montag, 11. Mai, im Gemeindehaus in der Fasanenstraße ehren.
Auf dieser Festveranstaltung werden auch jüdische Veteranen der Roten Armee, allesamt ehrwürdige Mitglieder unserer Gemeinde, anwesend sein. Die Tatsache, dass diese Veteranen ihren Lebensabend in Deutschland verbringen, ist der beste Beweis dafür, wie sehr sich die Bundesrepublik zum Guten gewandelt hat.
Innerhalb der Europäischen Union ist die Regierungskoalition unter Angela Merkel und Sigmar Gabriel wahrscheinlich die, mit dem vielleicht größten Verantwortungsgefühl der Jüdischen Gemeinschaft gegenüber. Darüber hinaus ist die Bundesrepublik heute die zweifelsfrei beste Freundin Israels in der EU. Eigentlich die beste Voraussetzung, um Jüdisches Leben in Deutschland wieder zum Blühen zu bringen.
Liebe Gemeindemitglieder,
wir würden uns sehr freuen, Sie zur Festveranstaltung am 11. Mai und zur darauffolgenden Geburtstagsfeier Israels am Sonntag, den 17. Mai im Gemeindehaus in der Fasanenstraße persönlich begrüßen zu können.
Ihr Dr. Gideon Joffe
jüdisches berlin
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