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Rede anlässlich des 76. Jahrestages der Pogrome vom November 1938

01.Dezember 2014 | Beiträge – jüdisches berlin | Gemeinde

Liebe Gemeindemitglieder,

welche Erinnerungen hat ein heute 76-jähriger an seine Kindheit? Die Pogromnacht kann nicht dazu gehören, denn ein heute 76-jähriger kam 1938 gerade auf die Welt. Ein Kind, das am 9. November 1938 zehn Jahre alt war, ist heute 86 Jahre alt. Wie bewusst kann ein 10-jähriges Kind die Pogromnacht oder den Tag darauf erlebt haben? Wie viele Menschen, die die Pogromnacht bewusst erlebt haben, sind noch unter uns? Was heißt überhaupt bewusst erlebt?

Erwachsene, die sich damals an den Abscheulichkeiten beteiligten, waren mindestens 18-20 Jahre alt. Falls sie heute noch leben, sind sie um die 95 Jahre alt. Wie viele 95-jährige Täter sind noch unter uns?

Damalige Opfer sind heute ebenfalls um die 95 Jahre alt. Wie viele 95-jährige Juden, die die Pogromnacht erlebt haben, sind noch mit uns? Es werden täglich weniger. Wie lange werden wir noch die Ehre haben, Überlebende des 9. November 1938 befragen zu können?

Welcher Mensch ist denn mit 95 Jahren überhaupt noch in der Lage, befragt zu werden? Für die Jüdische Gemeinde ist es daher eine außerordentliche Freude, die 1921 geborene Margot Friedländer auf unserer Gedenkveranstaltung am 10. November im Gemeindehaus begrüßen zu dürfen. Margot Friedländer war 1938 gerade einmal 17 Jahre alt. Ich persönlich bewundere sie für ihre mentale Stärke, Ende der 90er Jahre zurück nach Berlin gekommen zu sein, in die Stadt, in der die Ermordung ihrer Familie begann. Und wir danken ihr für ihre Bereitschaft, Berlinerinnen und Berlinern über die dunkelsten Jahre der deutschen Geschichte Auskunft zu geben.

Als sich die Mauer am 9. November 1989 öffnete, nein, als die Menschen in der DDR die Mauern zum Einstürzen brachten, bestand die jüdische Gemeinschaft in der Bundesrepublik aus insgesamt 27.000 Menschen. Von diesen ehemals 27.000 Menschen leben 25 Jahre später nur noch 5.000. Die jüdische Gemeinschaft war 1989 also eine verschwindend geringe.

Doch dann kam der 9. November 1989 – und mit ihm die Freiheit für Millionen Menschen aus der ehemaligen DDR und dem ehemaligen Ostblock. Wem wird nicht warm ums Herz, wenn man die Bilder von jubelnden Menschen sieht, die ihr Glück noch kaum fassen können?

Die Ironie der Geschichte könnte aus Sicht der Jüdischen Gemeinde kaum größer sein. Denn zum einen steht der 9. November für Tod und Zerstörung, zum anderen für Leben und Wiederaufbau. Der 9. November 1989 hat die jüdische Gemeinschaft in der Bundesrepublik im wahrsten Sinne des Wortes vor dem Aussterben bewahrt.

Wie gesagt, ohne Maueröffnung wären wir heute nur 5000, stattdessen haben die Gemeinden in der Bundesrepublik über 100.000 Mitglieder, davon 10.000 allein in Berlin. Eine Minderheit unter 80 Millionen Menschen bleibt per se immer vom Aussterben bedroht. Für mich als Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde ist es daher die wichtigste Aufgabe, zum Erhalt der Jüdischen Gemeinde beizutragen. Was so pathetisch klingt, bedeutet nichts anderes, als sich für den Aufbau jüdischen Lebens in Berlin einzusetzen. Und wir haben einen riesigen Nachholbedarf, z.B. bezüglich einer Real- bzw. Sekundarschule.

Es ist traurige Realität, dass jüdische Schüler heute in Berlin ihren Glauben verbergen. Aus Angst, als Jude erkannt zu werden, verschweigen viele jüdische Schüler ihre Religion. Diejenigen, bei denen Mitschüler die Religion kennen, werden zudem häufig beschimpft und beleidigt. Ich selbst werde regelmäßig von besorgten Eltern kontaktiert, die mir von den beschämenden Erlebnissen ihrer Kinder berichten.

In der Bundesrepublik des Jahres 2014 ist es traurige Realität, dass Juden jeden Alters wieder Angst haben, sich als Juden zu »outen«. Es ist traurige Realität, dass auf europäischem Boden Juden wieder ermordet werden, nur, weil sie Juden sind. Die Mordanschläge wie wir sie in Toulouse oder Brüssel gesehen haben, können auch, wie der Bundesinnenminister de Maiziére sagt, in der Bundesrepublik zur »tödlichen Realität« werden.

Aktuell werden in der Bundesrepublik fast 500 Prozesse mit islamistischem Hintergrund vor Gericht verhandelt, fast ebenso viele Ermittlungsverfahren laufen parallel. Jeder Prozess und jede Ermittlung ist eine Erinnerung daran, wie gefährdet jüdisches Leben in Deutschland ist. Dies liegt nicht nur an den Gefahren, die vom Rechtsextremismus ausgehen, sondern ebenso an Konstellationen, die ihren Ursprung im Nahostkonflikt haben.

Vom Verfassungsschutz beobachtet wurden und werden in der Bundesrepublik lebende Vertreter der Hamas, der Hisbollah und anderen Terrorgruppen. Die Beobachtung gestaltet sich schwieriger von durch Internet und religiösen Predigern aufgeputschten Einzeltätern. Sie können jederzeit unkontrolliert zuschlagen.

Jüdisches Leben, mehr als 70 Jahre nach der Shoa, wird also weiterhin nur hinter Mauern, Panzerglas und Stacheldraht möglich sein.

Der 9. November ist auch eine Mahnung, den Kampf gegen Antisemitismus nie wieder aus den Augen zu verlieren. Es ist sehr zu begrüßen, dass überall des 9. Novembers gedacht wird und sich Tausende von Initiativen für das Gedenken an die Gräuel der Nazizeit stark machen. Dieses Engagement trägt stark zur Beruhigung der jüdischen Deutschen bei. Und seien wir ehrlich, wir haben einen Präsidenten Gauck, eine Kanzlerin Merkel, einen Finanzminister Schäuble, einen Außenminister Steinmeier, einen Vizekanzler Gabriel, in Berlin einen Regierenden Wowereit und demnächst Müller, einen Innensenator Henkel. Wir sind von staatlich organisierter Verfolgung so weit entfernt wie die Menschen vor 75 Jahren vom Flug zum Mond.

Macht es in einem Land, das von genannten Politikern geführt wird, überhaupt noch Sinn, der Nazizeit zu gedenken? Die Antwort ist ein lautes und deutliches Ja. Denn in einer sich ständig wandelnden Welt gibt es auch bezüglich des Antisemitismus die Erfordernis, diesen in seinen neuen Erscheinungsformen zu erkennen und zu bekämpfen.

Antisemitismus ist heute in erster Linie nicht in der Diskriminierung von Juden, sondern des jüdischen Staates erkennbar.

Als Jüdische Gemeinde zu Berlin sind wir nicht die inoffizielle Vertretung des Staates Israel. Aber wir spüren einen Doppelstandard, eine Dämonisierung und Diskriminierung. Wenn Israel mit Nazi-Deutschland verglichen wird, wenn die Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands glaubt, Israel wolle die Palästinenser vernichten wie damals die Nazis die Juden, dann wird eine Grenze überschritten.

Wir als Jüdische Gemeinde wissen natürlich, dass diese Verleumdungen jeder Grundlage entbehren. Aber sie sind tägliche Realität und führen dazu, dass die Jüdischen Gemeinden weltweit als Unterstützer eines Nazi-Regimes im Nahen Osten angesehen werden. Antisemitismus beginnt immer mit Verleumdung. Sie setzt sich fort mit Diskriminierung.

Ein Beispiel dafür ist die Forderung des Palästinenser-Präsidenten Abbas, alle Juden in einem zukünftigen Staat Palästina zu zwingen, die Westbank zu verlassen und nach Israel zurückzukehren. Warum eigentlich? Wenn im Kernland Israels 20% der Bevölkerung muslimisch ist, warum dürfen dann nicht 10% der Bevölkerung in einem zukünftigen muslimischen Staat Palästina jüdisch sein? Ist dieser Vorschlag so abstrus? Gehört es nicht zu einem echten Frieden, zu lernen, seinen ehemaligen Feind als Nachbarn zu akzeptieren?

Warum wird eigentlich nie über den Doppelstandard, den Israel vor der UNO erleiden muss, berichtet? Wenn z.B. der UN-Menschenrechtsrat sich hauptsächlich damit befasst, Resolutionen gegen die einzige Demokratie im Nahen Osten zu verabschieden, liegt ein Doppelstandard vor, zu dem die deutsche Außenpolitik bisher kaum zu hören ist.

Solange diese Dämonisierung, diese Diskriminierung, dieser Doppelstandard gegenüber dem jüdischen Staat kein Ende nehmen, solange bleibt die Erinnerung an die Pogromnacht des 9. Novembers eine Pflicht aller Demokraten.

Ihr Dr. Gideon Joffe

Rede anlässlich des 76. Jahrestages der Pogrome vom November 1938