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Rationalisten und Mystiker
04.Oktober 2010 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
Rabbinerin Gesa Ederberg über den Charakter von Simchat Tora und zwei Traditionen des Lernens
Simchat Tora, wörtlich übersetzt »die Freude an der Tora«, ist – zusammen mit Purim – das fröhlichste Fest des Judentums. Wir feiern das Ende und den sofortigen Neubeginn der jährlichen Lesung der ganzen Tora, indem wir abends und morgens alle Torarollen durch die Synagoge tragen, tanzen und singen und die Kinder mit Süßigkeiten beschenken.
Der Vergleich mit Purim zeigt uns deutlich den besonderen Charakter von Simchat Tora. Beide Feste wurden weitestgehend erst in der nachbiblischen Diaspora ausgestaltet. Obwohl sie heute natürlich auch im Lande Israel gefeiert werden, haben sie (und auch Chanukka) im Gegensatz zu den anderen Feiertagen weder mit der Landwirtschaft noch mit der Geschichte des Volkes Israel von Abraham bis Mosche, wie sie in der Tora erzählt wird, zu tun. Die Art und Weise, wie wir diese beiden Feste feiern, deutet aber auf einen entscheidenden Unterschied in ihrem Charakter. Purim erinnert an den Versuch, alle Juden Persiens auszurotten und feiert das Überleben, das Gerade-noch-einmal-davon-gekommen-Sein auf eine hektische, alkoholreiche, ja fiebrige Art. Die Ausgelassenheit von Simchat Tora aber ist eine ganz andere, denn hier feiern wir nicht, dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen zu sein, sondern das Lernen der Tora als solches – anlässlich des alljährlichen Abschlusses und Neubeginns der Lesung der Tora in der Synagoge. Simchat Tora ist inhaltlich ein »Sijjum«, ein Abschluss, wie man ihn feiert, wenn man etwa ein Traktat Talmud zu Ende gelernt hat.
Talmud Tora, das Lernen der Tora, ist die jüdische Aktivität schlechthin. Im täglichen Morgengebet zählen wir die zentralen Pflichten eines Juden auf, indem wir aus Mischna und Talmud zitieren (auf der Grundlage von Pea I,1 und Schabbat 127a). Zum Schluss heißt es dabei »we-Talmud Tora ke-neged kulam« – »das Lernen der Tora wiegt genauso viel wie all diese zusammen«. Im Talmud (Kidduschin 40b) diskutieren die Rabbinen, was wichtiger sei, gute Taten oder das Lernen der Tora und entscheiden sich für die Tora, denn sie ist die Grundlage für gute Taten.
Schon früh versuchte man festzulegen, mit welchen Texten und Themen man sich besonders zu beschäftigen habe, denn Tora bedeutet ja gleichermaßen die schriftliche Tora als erster Teil der Bibel, auf den die vorderen und hinteren Propheten sowie die Schriften folgen, wie auch die mündliche Tora, die die ganze jüdische religiöse Tradition umfaßt.
Zwei Traditionen haben sich herausgebildet. Dominant war fast stets die Richtung der Rabbinen, die die Halacha als Studienthema bevorzugten. Diese Beschäftigung mit den Mizwot konzentrierte sich vor allem auf den Talmud und teils auch, wie in Ungarn, auf die halachischen Kompendien wie den Schulchan Aruch. In der litauischen Tradition betonte man das Lernen der Tora »li-schma« – »um ihrer selbst willen« und nicht aus praktischen Gründen als Handlungsanweisung. So konzentrierte man sich absichtlich auf die Texte, die durch die Zerstörung des Tempels keinerlei praktische Bedeutung mehr hatten.
Die zweite Richtung war nicht, wie man hätte annehmen können, auf das Studium der schriftlichen Tora ausgerichtet (die Karäer, die dies taten, sind aus dem Judentum genauso ausgeschieden wie die Christen). Die zweite Richtung wurde vielmehr von Frommen vertreten, die weniger vom Lernen und mehr vom Beten hielten, weil sie dies ihrer Meinung nach näher zu Gott bringe. Zugleich waren diese Frommen Mystiker, die weniger am »Pschat«, dem eigentlichen Schriftsinn, sondern am »Remes«, einem verschlüsselt in der Tora verborgenen mystischen Schriftsinn, interessiert waren. Für das neuzeitliche Judentum ist dieser Konflikt exemplarisch verkörpert durch die Mitnagdim, die litauischen Anhänger des Studiums der Halacha, und die Chassidim, die galizischen Wunderrabbiner und ihre Anhänger, die in Gebet und Tanz eine Nähe zu Gott suchten.
Auch heute gibt es diese beiden Strömungen, die man auch Rationalisten und Mystiker nennen kann, weil Gott die Menschen unterschiedlich erschaffen hat. Beide Strömungen – und es gibt sie in unterschiedlichen Formen in allen Richtungen des Judentums – streben an, Gott zu dienen und zu suchen und gleichzeitig ein aktives Leben als guter Mensch unter anderen Menschen zu führen. Beide sind aber auch mißtrauisch gegenüber den Auswüchsen der anderen Seite. Die Mystiker fürchten, dass die Freude am Judentum im Lernen untergehen könnte und die Rationalisten fürchten, dass die Ernsthaftigkeit der Tradition und der intellektuellen Auseinandersetzung in Schwärmerei verloren gehen könnte.
Simchat Tora bringt beide Aspekte zusammen – und lehrt uns, dass die Freude am Lernen und Gelernten und die Dankbarkeit über viele Lernmöglichkeiten und über den Reichtum unserer Tradition uns die Energie schenken kann, in das neue Jahr mit erneuerter Neugier und intellektuellem Hunger zu gehen, damit wir in der Beschäftigung mit den Texten und Quellen unserer Tradition neue Antworten auf unsere heutigen Fragen finden können.
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