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Pioniere des Kollektivs
01.Dezember 2011 | Beiträge – jüdisches berlin | Ausstellung, Israel
In einer großen Ausstellung zeigt die Stiftung Bauhaus Dessau erstmals, wie ehemalige Bauhäusler maßgeblich an der modernen Kibbuz-Architektur in Palästina/Israel mitgewirkt haben
Kibbuz, diese weltweit einmalige Form kollektiven Zusammenlebens hat ihren Ursprung in der europäischen Jugendbewegung und der zionistischen Vision junger Juden von einer neuen, eigenen Existenz im gelobten Land. Ausgebildet in Europa für die schwere Pionierarbeit zur Urbarmachung des Landes, zogen sie in mehreren Migrationswellen nach Palästina. Unter diesen Bedingungen wurde vor 100 Jahren in Degania der erste Kibbuz gegründet. Das Motto des Kollektivs lautet: »Jeder gibt nach seinen Möglichkeiten und erhält gemäß seinen Bedürfnissen.« Im Bauhaus Dessau ist bis zum 9. April 2012 eine große Ausstellung zu sehen, die erstmals zeigt, wie ehemalige Absolventen des Bauhauses an der modernen Kibbuz-Architektur mitgewirkt haben und welche geistige Verwandtschaft zwischen der wichtigsten Gestaltungshochschule des 20. Jahrhunderts und den Pionieren des Kollektivs bestand.
Die Einführung der Schau zeichnet die Utopien und Realitäten dieser Entwicklung anhand von konkreten Kibbuzim auf. Junge Architekten und Planer brachten die Ideale und Methoden des Neuen Bauens aus Europa nach Palästina und prägten nachhaltig die Planung und Formensprache der Kibbuzim: Ein neues Bauen für den neuen Israeli im neuen Land. Richard Kauffmann schuf 1921 mit dem Moschaw Ovdim Nahalal den Prototypen eines auf kooperativen und individuellen Grundsätzen beruhenden Genossenschaftstyps, der aus Lemberg stammende Samuel Bickles befasste sich mit den Grün- und Landschaftszonen der Kibbuzim. Umgekehrt zog es in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre werdende Architekten wie Arieh Sharon und Shmuel Mestechkin für ihre weitere Ausbildung von Palästina zurück nach Europa. Sie gingen an das Bauhaus in Dessau, um bei Hannes Meyer oder Ludwig Mies van der Rohe zu studieren. Die Ideale des Kibbuz und des Bauhauses fanden zu einer einmaligen Synthese.
Andere junge Bauhäusler wie der Architekt Munio Weinraub gelangten auf der Flucht vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten nach Palästina und wurden zu angesehenen Erbauern des neuen Staates. Wieder andere wie die Weberin Ruth Kaiser oder Mordecai Bronstein, der in Weimar in der Reklame- und Druckwerkstatt gearbeitet hatte, nahmen ihre Bauhauserfahrungen mit nach Palästina, um dort die berühmte Bezalel-Kunstschule aufzubauen. Bronstein war sogar über zwölf Jahre Direktor der Schule.
Der dritte Teil der Ausstellung stellt anhand von Bild- und Planmaterial sowie Möbeln vor, wie die moderne Planung und Architektur dem sozialistisch-zionistischen Gesellschaftsmodell des Kibbuz bauliche Gestalt gibt. Grundlage hierfür ist der israelische Beitrag »Kibbutz – An Architecture without Precedents« für die Architekturbiennale 2010 in Venedig.
In Wohn- und Gemeinschaftsräumen, bei Spielplätzen und den Produktionszonen vom Hühnerstall bis zur Werkhalle spiegeln sich seit Beginn der Kibbutz-Bewegung und bis heute immer wieder Dispute und Spannungsfelder wider, die sowohl die Idee des Bauhauses als auch die des Kibbuz ausmachen: Sozialismus versus Individualismus, ländlich versus urban, Nation versus Modernismus, Mitteleuropa versus Levante.
Heutzutage ist die bauliche und ideelle Zukunft des Kibbuz durch die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und neue Ansprüche persönlicher Lebensstile unsicherer denn je. Einblicke in diese Transformationsprozesse, die in Richtung Auflösung, Privatisierung, Touristifizierung oder Urbanisierung gehen, geben am Schluss der Ausstellung Interviews mit Menschen vor Ort.
Die Ausstellung steht unter der Schirmherrschaft des israelischen Botschafters Yoram Ben-Zeev und des deutschen Kulturstaatsministers Bernd Neumann. Sie ist eine Koproduktion der Stiftung Bauhaus Dessau mit der Bezalel Academy of Art and Design Jerusalem und dem Museum of Art in Ein Harod. Sie zeigt Dokumente, Pläne und Fotografien sowie Interieurs, die eindrucksvoll die Kibbuzplanungen nachzeichnen.
Installationen in der Mensa und im Klub des Bauhauses zeigen Analogien in der räumlich funktionalen Gliederung des Gebäudes von Walter Gropius mit den Planungen der zentralen Gemeinschaftseinrichtungen des Kibbuz auf. Die Kibbuzim aus dem Heute reflektiert die Arbeit »Beyond Eden«: Die Fotografin Stephanie Kloss und die Politikwissenschaftlerin Antonia Blau haben über 40 Kibbuzim fotografiert und ihre Bewohner interviewt. Dort fanden sie ein fragmentiertes Bild einer zementierten Gegenwart, einer utopischen Vergangenheit und einer kollektiv-brüchigen Identität.
Im Meisterhaus Muche/Schlemmer, nur ein paar Schritte vom Bauhausgebäude entfernt, wird anlässlich der Ausstellung die Filminstallation »Traces« des israelischen Filmemachers Amos Gitai zu sehen sein. Grundlage dafür ist Gitais Film »Lullaby to my Father« über seinen Vater Munio Weinraub, der am Bauhaus studierte und 1934 nach Palästina emigrierte. Im Zentrum stehen Weinraubs Lebensstationen vom Stetl in Galizien über Berlin und Dessau, Frankfurt und Zürich bis nach Palästina.
Abgerundet wird die große Ausstellung durch ein umfangreiches Begleitprogramm, unter anderem mit einer Lesung über Lotte Cohn, die aus dem zionistischen Milieu Berlins stammend zur ersten Architektin Israels wurde.
Ingolf Kern
_»Kibbuz und Bauhaus – Pioniere des Kollektivs«, Ausstellung im Bauhaus Dessau, Gropiusallee 38, 06846 Dessau-Roßlau; Eintritt 6,-/4,- Euro, bis 9. April 2012, täglich 10 bis 18 Uhr
Mehr Infos: www.bauhaus-dessau.de
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