Beitragssuche

Datum / Zeitraum:
Beitragsart:
Kategorie:

Pendeldiplomatie

01.März 2016 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage

Gedanken zu Purim von Rabbiner Yehuda Teichtal

Henry Kissinger war wohl der einflussreichste Diplomat des 20. Jahrhunderts, und sicherlich einer der berühmtesten Juden. Ob bewundert oder geschmäht, seine Talente als brillanter Verhandlungsführer und überzeugender Redner sind nicht zu leugnen.

Kissinger mag der berühmteste jüdische Diplomat gewesen sein, aber er war ganz bestimmt nicht der erste. Die Purim Megilla, nach Königin Esther benannt, zeichnet das Bild einer klugen, einfallsreichen und mutigen gläubigen Frau. Aber, wenn man die Geschichte genauer liest und die Taten in ihr richtig analysiert, dann kommt zum Vorschein, dass sie außerdem eine meisterhafte Taktikerin und Diplomatin war, die selbst Kissinger umgehauen hätte.

Nach vielen Jahren der Purim-Spiele, Dia-Shows und Kostümfeste kennen die meisten von uns wohl die grundlegenden Details der Geschichte: Der Plan von Haman, die Juden umzubringen, dass Achaschwerosch in Ester vernarrt ist, nachdem er seine erste Frau Waschti umgebracht hat, wie Mordechai Ester, seine Cousine einspannt, die Juden zu retten, nachdem er von Hamans Plan erfahren hat, dass Ester eine Audienz beim König hat, ihn und Haman zu einem Festmahl einlädt, und dann zu noch einem, und endlich nach der zweiten Party dem König offenbart, dass es ihr eigenes Volk ist, welche Haman umzubringen versucht. Haman wird erhängt, wir feiern.

Um die Weisheit Esters wertschätzen zu können, müssen wir über eine unübersehbare offensichtliche Frage in der Purim-Geschichte nachdenken.

Etwas ist hier nicht klar: Warum hat Ester zwei Festmahle organisiert? Bei der ersten Party für Achaschwerosch und Haman hat sie nur das Datum für das nächste Festmahl festgelegt!

Warum das zweite Mahl? Wir wissen nicht, was Ester in der Zeit zwischen den beiden Festen getan hat.

Genau diese Spannung erlaubte es der Geschichte sich so zu entwickeln, wie geschehen…

Das erste Mal, als Ester dem König und Haman eine Einladung ausspricht, lädt sie ihn zu einem Bankett ein, die zweite Einladung zu einem Bankett ist für ihn und Haman. Um die Bedeutung der absichtlich so formulierten Einladung zu verstehen, ist es unabdingbar, dass wir die fesselnde Dynamik und Spannung erkennen, welche zwischen diesen drei Protagonisten herrscht: Ester, Achaschwerosch und Haman. Hierfür müssen wir den persischen König »auf die Couch legen« und ihn analysieren.

Welches war die Schlüsseleigenschaft im psychologischen Profil Achaschweroschs? Er war ein Mann, der an einer intensiven Paranoia litt.

Im Rausch seiner 187 Tage andauernden Extravaganz, möchte der König, dass seine Frau Waschti vor seinen Freunden erscheint. Als sie dies ablehnt, folgt Achaschwerosch dem Rat seines Beraters Memuchan und bringt sie um. Seine große Unsicherheit und sein fehlendes Selbstbewusstsein waren für ihn ein psychologisches Todesurteil, als seine Frau ihm widersprach. An diesem Punkt ging es darum: er oder sie!

Und das war wahrscheinlich ein großer Teil seiner Unsicherheit. Er hatte stets das Gefühl, sich beweisen zu müssen, um akzeptiert zu werden. Diejenige, welche in ihm das tiefgründigste Gefühl der Unsicherheit auslöste war Königin Waschti, die wahre Erbin des babylonischen Thrones. Als Waschti ihn daran erinnerte, musste sie eliminiert werden.

Aber so sehr ihn seine Paranoia unberechenbar und gefährlich machte, so konnte diese Schwäche in den Händen der richtigen Person ausgenutzt werden. Und diese Person war Haman.

Haman hat ganz eindeutig die Schwäche seines Herrschers ausgenutzt. Er hat nicht davon abgelassen, der Paranoia Achaschweroschs Futter zu geben.

Welches waren seine wirklichen Motive? So wie die
royale Herkunft Waschtis, so wie ihre Bestimmtheit die Autorität ihres Ehemannes in Frage stellten, so empfand Haman sie als Bedrohung für seinen eigenen Einfluss. Die Gelegenheit war nun gegeben, dass Haman uneingeschränkten Einfluss auf den König ausüben konnte, und somit enorme Macht haben würde. Danach war es ein leichtes Spiel für Haman, das Einverständnis des Königs für die Ermordung der Juden zu bekommen.

Die Geschichte ist voll von psychopathischen Tyrannen, die davon besessen sind, ihre Macht zu erhalten, ohne Rücksicht auf andere Meinungen. Wahnsinnige wir Peter der Große, Iwan der Schreckliche haben ihre eigenen Kinder umgebracht, wenn sie sich bedroht fühlten. Das sind nicht die Sorte Menschen, bei denen man »betteln oder flehen« kann, und die Hoffnung hat, an ihre Gefühle der Güte appellieren zu können. Sie haben keine, und das wusste Ester.

Ester musste mit den Unsicherheiten ihres Ehemannes umgehen und ihm demonstrieren, dass die verderblichste und gefährlichste Bedrohung für den König keine andere als Haman war. Nun wird ihre Großartigkeit vor uns enthüllt. Als Ester das erste Mal Achaschwerosch und Haman zusammen zu einem Bankett einlädt, muss der König sofort ein wenig misstrauisch angesichts dieser doch ungewöhnlichen Geste geworden sein. Warum organisiert sie plötzlich eine Party? Und warum ist Haman eingeladen? Aber, wie Ester es in ihrer Einladung deutlich machte, ist dies ein »Festmahl für ihn«– für den König. Haman war sozusagen nur Anhängsel.

Aber dann kommt das erste Festmahl. Ester bittet um nichts, Haman vergnügt sich sehr und findet es toll, dass er zu so einer exklusiven Feier eingeladen wurde.

Nun beginnen die Gedanken im paranoiden Verstand Achaschweroschs herumzuwirbeln: Was hatte Haman vor? Warum hat Ester ihn nicht einmal, sondern zweimal eingeladen? War sie ihm näher gekommen? Planten Haman und Ester etwas hinter dem Rücken des Königs?

Beim zweiten Festmahl verspürte Achaschwerosch intensive, misstrauische Eifersucht. Ester wusste, die Zeit war gekommen. »Es gibt da ein Komplott!«, rief sie. Eine Verschwörung! Es besteht in der Tat eine Bedrohung für die Königin!

Wer konnte hinter dieser Verschwörung stecken? Das war es, was Achaschwerosch wissen wollte. Und nun machte Ester ihren letzten Schritt. Sie antwortet ihm: »ein Gegner und ein Feind, dieser böse Haman!«

Auf brillante und genial taktische Weise hat Ester den Spieß umgedreht – ausgeklügelt und unerwartet. Die Großartigkeit war zweifach: Wie sie mit Haman umgegangen ist und wie mit Achaschwerosch. Sie hat Haman nicht beim König verunglimpft. Das hätte sie nie geschafft. Stattdessen hat sie Haman erhoben, indem sie zu einer intimen Party einlud. Indem sie ihm das Gefühl gab, mächtig zu sein, ließ sie ihn sein eigenes Grab graben. Haman, der alles und jeden fest in der Hand hatte, wurde überrascht.

Und statt gegen die Paranoia von Achaschwerosch anzugehen, arbeitet sie mit ihr. Sie nutzt genau jene Schwäche bei Achaschwerosch, die Haman ausgenutzt hatte, gegen ihn. Es war eine brillante Tat der taktischen Poesie. Das ist das Geheimnis der zwei Bankette.

Hierin liegt eine tiefgründige Botschaft für unser aller Leben. Haman steht für all das, was in unserer Psyche und in unserem Verhalten nicht erwünscht ist. Und die Art und Weise, wie wir dieser Herausforderung begegnen können, ist genau der Weg, den Ester gegangen ist. Ester hat nicht versucht, konfrontativ gegen Haman vorzugehen, ihn zu bekämpfen oder gegen seinen Einfluss auf den König anzugehen. Welches war dann ihre Lösung? Ester führte Haman nah – zu nah – an den König, und Haman verschwand ganz von allein. Indem sie Haman »erhob«, indem sie ihn zu diesen intimen Partys einlud, indem sie ihm ein Gefühl der Macht vermittelte, ließ sie ihn sein eigenes Grab graben.

So ist es auch in unserem Leben: Wenn wir uns der »Haman«-Kräfte in unserem Leben entledigen wollen, dann müssen wir sie dem König der Könige näher bringen. Viele der destruktiven und unmoralischen Versuchungen, die wir in unseren Herzen fühlen, sind uns nur deshalb willkommen, weil wir nicht deren Wahrheit exponieren – wir exponieren sie nicht dem Licht der Wahrheit, dem Licht G-ttes. Selbst wenn sich jedes ungesundes Verlangen ohne Maskierung präsentieren würde, wenn wir jedes Gefühl mit durchdringender Wahrheit prüfen würden, so würden wir alles, was unserem wahren G-ttlichen Selbst fremd ist, wegwerfen.

Angesichts der Wahrheit G-ttes, schmilzt Haman. Wie die Dunkelheit, hat auch das Böse keine unabhängige Existenz, und in dem Moment, wo das Licht angemacht wird, schmilzt es dahin. Wenn das Böse in seiner Nacktheit gezeigt wird, indem die Wahrheit offengelegt wird, dann wird seine Nichtigkeit deutlich und seine Macht geht verloren. Es stirbt.

 

Pendeldiplomatie