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"Ohne Hilfe werden wir nicht auskommen"
17.Juli 2011 | Pressespiegel | Gemeinde
Aus der Berliner Morgenpost vom 17. Juli 2011
Die Jüdische Gemeinde zu Berlin hat in den vergangenen Jahren ein zweistelliges Millionendefizit angehäuft. Über die finanziellen Probleme, die Zukunft der Gemeinde und das jüdische Leben in Berlin sprach Dirk Westphal mit der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Lala Süsskind, und mit Finanzvorstand Jochen Palenker.
Berliner Morgenpost: Wegen der Zusagen für Altersruhebezüge ehemaliger Mitarbeiter weist der Etat der Gemeinde ein zweistelliges Millionendefizit auf. Ist sie überhaupt noch handlungsfähig?
Lala Süsskind: Sie muss es sein, wenn wir eine erfolgreiche 340-jährige Geschichte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin fortführen wollen. Denken Sie auch an all die guten Dinge, die Juden für die Stadt getan haben. Nehmen wir als Beispiel die Aktionäre des Zoos. Ein Drittel von denen waren Juden. Sie haben viel gesponsert und gefördert, was der Stadt zugutekam. Wir tun alles dafür, dass es so bleibt. Auch wenn wir heute viele arme Mitglieder in der Gemeinde haben. Aber zurück zu Ihrer Frage: Nach unserem Amtsantritt im Jahr 2008 haben wir Einblick in die Zahlen genommen und entsprechende Schritte eingeleitet, um die Finanzen auf einen annehmbaren Weg zurückzubringen.
Berliner Morgenpost: Was heißt das konkret?
Süsskind: Wir haben zum Beispiel die Stellen in der Gemeinde von ehemals über 400 auf aktuell 330 reduziert.
Berliner Morgenpost: Das senkt die laufenden Kosten. Doch alte Rentenzusagen belasten die Gemeindebilanz auch künftig. Wie kann das sein?
Jochen Palenker: Einerseits erhebt der Senat Rückforderungen in Höhe von 5,9 Millionen Euro wegen überzahlter Altersruhebezüge an ehemalige Mitarbeiter, weil der Senat in den Vorjahren zu viel an die Gemeinde gezahlt hat. Andererseits klafft zwischen den durch die Gemeinde zugesagten Pensionsansprüchen und dem Erstattungsanspruch aus dem Staatsvertrag, der die Frage der finanziellen Zuweisungen an die Gemeinde wie auch an andere Glaubensgemeinschaften regelt, eine gewaltige Lücke.
Berliner Morgenpost: Wie konnte es so weit kommen?
Süsskind: Wir hatten nach 1990 viele ältere Mitarbeiter in der Gemeinde beschäftigt, die eine vergleichsweise kurze deutsche Erwerbsbiografie hatten. Natürlich war es das Anliegen der Gemeinde, diese nicht in eine Form der Altersarmut gleiten zu lassen, sondern auch ihnen einen angemessenen Lebensabend zu sichern.
Berliner Morgenpost: Ende 2010 räumte der Vorstand aber schon mal ein, dass es hierbei auch zu "Überausstattungen" einiger Ruheständler gekommen ist.
Palenker: Ja, das stimmt. Aber man muss immer sehen, dass der ehemalige Vorstand hier aus bester Absicht handelte. Wir versuchen nun, durch ein Bündel von Maßnahmen die Zahlen in den Griff zu bekommen. Was heißt das konkret? Für heutige Mitarbeiter der Gemeinde heißt es, dass die Rentenansprüche, die schließlich auch Besitzansprüche sind, auf einen Stichtag eingefroren werden müssen. Die Renten dürfen jedoch nicht unter das Niveau des öffentlichen Dienstes absinken. Anders ist eine Rechtssicherheit nicht zu erreichen. Schließlich sind Rentenzusagen Gehaltsbestandteile, die man nicht so ohne Weiteres später kassieren kann.
Berliner Morgenpost: Dennoch werden Ex-Mitarbeiter der Gemeinde noch länger mehr Rente erhalten als vergleichbare Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes. Wie bleibt die Gemeinde zahlungsfähig?
Palenker: Die Gemeinde wird natürlich im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten dafür geradestehen müssen. Es zeigt sich schon am harten Sparkurs, dass wir bestrebt sind, Fehlentwicklungen zu korrigieren und einen - abgesehen von der Rentenfrage - ausgeglichenen Haushalt aufzulegen. Hier sind wir mit Blick auf die Wirtschaftsplanung 2012 deutlich vorangekommen. Ganz ohne Hilfe werden wir allerdings vermutlich nicht auskommen. Wir sind hier im Gespräch mit der Politik.
Süsskind: Die Jüdische Gemeinde zu Berlin ist ja kein Selbstzweck, sondern hat als Einheitsgemeinde die Aufgabe, die Infrastruktur für jüdisches Leben in all seiner Breite zu schaffen und zu erhalten. Um das zu leisten, gilt es nicht nur, die Ruhebezüge neu zu ordnen, sondern auch die Investitionen in unsere Schulen, die Kita, Dienstgebäude und Senioreneinrichtungen fortzuführen.
Berliner Morgenpost: Wie viele Mitglieder hat die Gemeinde aktuell?
Süsskind: Die Phase mit der starken Zuwanderung im Zuge der Gorbatschow-Perestroika-Ära ist vorüber. Wir haben zurzeit um die 11 000 Mitglieder. Zum Vergleich: 1990 waren es um die 4500. Die tatsächliche Zahl der Juden in Berlin ist aber natürlich höher. Wie hoch genau, kann man nur schätzen. Es könnten bis zu 30 000 sein.
Berliner Morgenpost: Zum Thema Erinnerung: Manche Israelis, die auf Besuch nach Berlin kommen, können mit dem Holocaust-Denkmal wenig anfangen. Gibt es Nachbesserungsbedarf?
Süsskind: Ich glaube, an Denkmalen fehlt es nicht. Wichtig ist der Erhalt der authentischen Orte, der ehemaligen Lager. Ich selbst habe mich lange gesträubt, einen solchen Ort aufzusuchen. Dann habe ich es nach einigen Einladungen doch getan. Das war, wie Sie sich denken können, sehr eindrücklich. Man muss aber auch sehen, dass etwa für jüdische Menschen aus dem Osten die Erinnerung mitunter an ganz andere Daten gebunden ist. Für uns Juden in Deutschland ist der 9. November, der Tag der Nazi-Pogrome, wichtig. Für einige Juden aus dem Osten hat der 8./9. Mai eine viel größere Bedeutung. Weil es der Tag des Sieges über Hitler-Deutschland war, an dem ja auch einige der heute noch lebenden Juden mitgewirkt haben.
Palenker: Trotzdem sollten wir langsam wegkommen von dem Thema Opfergemeinschaft. Wenn wir für jüngere Menschen attraktiv sein wollen, braucht es mehr. Ich rede hier gern von dem "Markenkern" modernen Judentums: Was macht es aus? Judentum hat viel mit Menschsein zu tun, mit Zuwendung zum Anderen, mit Kultur und mit Bildung, Bildung und nochmals Bildung. Das gilt es zu pflegen und auszubauen.
Berliner Morgenpost: Im September besucht der Papst Berlin. Wie ist der Kontakt zu den christlichen Glaubensgemeinschaften?
Süsskind: Der Kontakt ist gut. Ich war übrigens auch bei der Feier für den kürzlich verstorbenen Erzbischof Sterzinsky. Das war mir wichtig.
Berliner Morgenpost: Vor fünf, sechs Jahren war viel von Streit innerhalb der Jüdischen Gemeinde zu hören, zwischen Orthodoxen und Liberalen. Ist es hinter den Kulissen ruhiger geworden?
Palenker: Es gibt natürlich gelegentlich Probleme mit der gegenseitigen Toleranz. Da müssen wir als Vorstand ausgleichend wirken. Wir müssen ja als Religionsgemeinschaft alle abholen, da können nicht die Extreme, an welchem Rand auch immer, den Ausschlag geben. Letztlich geht es darum, frei nach dem Alten Fritz: "In unserer Gemeinde kann jeder nach seiner Fasson jüdisch sein." Das ist ein gutes Motto.
Berliner Morgenpost: Frau Süsskind, Sie waren schon einige Male in Israel. Begegnen Ihnen dort Menschen, die sagen: "Wie kannst du in Deutschland leben?"
Süsskind: Heute gibt es das nicht mehr. Aber als ich das erste Mal in Israel war, gab es das. Bei einem Besuch saß ich mal neben einer älteren Dame, die sich weigerte, mit mir Deutsch zu reden, obschon sie offenkundig Deutsch verstand. Ich fragte sie darauf sehr direkt, warum sie nicht mit mir in Deutsch reden wollte. Und sie sagte mir, dass sie es nie mehr habe tun wollen. Dabei brach sie in Tränen aus und erzählte mir ihre Geschichte. Das war sehr berührend.
Berliner Morgenpost: Der Tourismus zwischen Israel und Deutschland floriert. Warum reisen so viele junge Israelis nach Berlin?
Süsskind: Nun, Berlin gilt einfach als in. Und dann hat die Stadt auch eine hohe Attraktivität für Lesben und Schwule. Da gibt es auch zahlreiche Verbindungen, etwa nach Tel Aviv.
Berliner Morgenpost: Die Gemeinde erneuert ihre Bauten an der Auguststraße in Mitte. Bald soll auch der Gründungskern im sogenannten Klosterviertel in Mitte, der Jüdenhof, wieder sichtbar gemacht werden, stimmt Sie das froh?
Süsskind: Natürlich, auch wenn wir nicht bei jedem Projekt selbst tätig werden. Aber es gibt dabei auch betrübliche Dinge. So fragte mich letztens jemand: "Nun bekommt ihr also auch noch Geld für eure Friedhofsmauern?" Ich kann bei so einem Satz schon mal sehr flapsig werden. Dann sage ich: "Wenn ihr unsere Juden nicht umgebracht hättet, könnten wir das selbst bezahlen."
Berliner Morgenpost: Heinz Galinski, der ehemalige Vorsitzende der Gemeinde, besuchte einst Schulen und erzählte vom Holocaust. Bald sind alle diese Zeitzeugen tot, wie geht man damit um?
Süsskind: Uns erreichen immer wieder Fragen wie: Könnt ihr einen Zeitzeugen liefern? So berechtigt die Frage ist, manchmal kann ich sie nicht mehr hören. Richtig ist, dass die Zeitzeugen langsam aussterben. Wir werden mit anderen Instrumenten an das erinnern, was sich nicht mehr wiederholen soll.
Das Gespräch führte Dirk Westphal
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