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Nicht zu Hause geblieben
02.Mai 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Kultur
Der israelische Performance-Künstler Natan Ornan unterhält jetzt das Berliner Publikum
Stille Post
Es ist möglich zu schreiben / auch von weit weg / auch für jemanden / der nicht ist / Worte, die noch nicht geschrieben sind / an eine unbekannte Adresse zu richten / mit einem erfundenen Namen zu unterschreiben / ein Blatt von Null Millimeter Stärke / an das steife Bein einer ausgestopften Brieftaube zu binden / und weiter zu glauben, dass es jemanden gibt, der liest.
Das Gedicht hat er in seinem Kreuzberger Lieblingscafé geschrieben, es ist zugleich sein erstes, das er mit Hilfe seines Freundes Stephan Herz auch auf Deutsch verfasst hat. Natan Ornan (36) ist erst seit anderthalb Jahren in Berlin und spricht erstaunlich gut Deutsch. Er habe sein ganzes Geld in Sprachkurse investiert, erklärt er, seine Kunst habe schließlich mit Wörtern zu tun. Natan ist Schauspieler, Performancekünstler.
Seine Familie ist israeltypisch zusammengesetzt, die Geburtsorte seiner Vorfahren liegen in Weißrussland, Polen, Marokko und Ägypten. Nur er selbst und seine Mutter sind bereits in Israel geboren. Dort hat er am Yoram Loewenshtein Performing Arts Studio in Tel Aviv studiert, war zehn Jahre mit seiner Band »The Gotel Botel Group« unterwegs, hat Texte, Songs, zwei Musikalben, einen Film (»Life and Death of Gotel Botel«) und eine Rockoper herausgebracht sowie Kabarett gespielt. Aber irgendwann wurde ihm Israel zu eng, »ich hatte da nichts mehr zu tun, hab keine Perspektiven gesehen, konnte nicht mehr atmen.«
Das kann er in Berlin offenbar. Im April hat er seine erste One-Man-Show auf Hebräisch und Deutsch im Kreuzberger Theater TAK aufgeführt, mit Hilfe der israelischen Kulturinitiative »Habait« und der Kulturabteilung der Gemeinde. Der Titel der Show – »Zuhause Bleiben« (Tischaaru babait) – geht auf seine Oma Malka Victoria Azulay zurück, erzählt Natan. Die habe immer gesagt, er solle zuhause bleiben, da sei es sicher und man habe alles, was man brauche. Natan ist nicht zu Hause geblieben und erzählt in der Fremde die »Geschichte seiner Generation« – im Clown-Piraten-Kostüm agierend und kommentierend zwischen zwei Videoscreens, auf denen alte Filme ablaufen, die seinen Heimatort und seine Familie sehr intim zeigen: einen Seder, den Garten, wo Opa 35 Obstbäume gepflanzt hat, seine an Parkinson und Demenz erkrankte Oma, die den Opa nicht mehr erkennt. Die andere Leinwand zeigt die letzten zwei Jahre, Sequenzen vom Kofferpacken, das neue Givataim, bis hin zu seinem Leben in Berlin.
Wieso eigentlich Berlin? »Vielleicht war das etwas Unbewusstes«, überlegt Natan. »Mit 15 hatte ich eine Band, die hieß irgendwas mit Berlin, später hab ich einen Song geschrieben, Zar leBerlin – »Fahr nach Berlin, knie vor dem Wehrmachtsoffizier, Fett kauend aus den Hundenapf...« Berlin ist halt so ein Topos. Jedoch fuhr er erst nach dem Tod seines Großvaters, an dem er sehr hing, zum ersten Mal nach Deutschland. Was Opa, der »keine Entschädigung angenommen hat, weil er nicht als Opfer angesehen werden wollte«, davon gehalten hätte, weiß Natan nicht, aber »ich will nicht in der Vergangenheit bleiben.« Er erinnert einen Dialog mit einem seiner Tandempartner, dessen Großvater und Vater in der Wehrmacht waren – »Ich sage: ›Der Bruder meines Opas war vergast in Treblinka‹. Und er sagt: ›Falsch, es heißt wurde vergast‹. Dann plötzlich: ›Es tut mir leid, ich halte lieber den Mund‹. Aber ich sage: ›Nein! Du hast das Recht dazu, du musst mich korrigieren‹«. Natan überlegt kurz und sagt: »Ich glaube, wir therapieren uns gegenseitig. Ich spende ja auch Plasma für Deutsche.« Die Leute hier hätten ihm sehr geholfen und er habe viel gelernt von den Berlinern, die findet er tolerant und solidarisch. Sie hätten Gemeinsinn und Verantwortungsgefühl und würden als Bürger ihre Umgebung aktiv beeinflussen, meint er in Hinblick auf die Ohnmacht, die er gegenüber den dramatischen Veränderungen in seiner Heimatstadt Givataim fühlt. Früher hätte man von Givataim aus das Meer gesehen, heute nur noch die Skyline von Tel Aviv. Er beklagt, dass archäologische Stätten, historische Gebäude und alte Bäume dem Bauboom zum Opfer fallen – »für Hochhäuser, in denen nur Reiche wohnen können«, und dass die Leute das gleichgültig lasse.
Natan ist in jeder Beziehung ein engagierter Mensch. Er demonstriert in Israel gegen die Abschiebung von Gastarbeiterkindern (und läuft in Berlin anschließend mit dem Demo-T-Shirt »United against Deportation« herum, was ihm hier selbst komisch vorkommt), und für seinen Kindheitsort, sein längst verlorenes Paradies, kämpft er auch von Friedrichshain aus weiter.
In Berlin fühlt er sich pudelwohl, hat eine Theatertruppe gegründet, das »Übertheater«, probt dort sein erstes Stück »Triumph« und denkt bereits über das nächste Projekt nach: Er hat einen alten Briefwechsel zwischen seinem Großvater und dessen Bruder gefunden, der in Treblinka ermordet wurde. Natan heißt wie der Bruder seines Großvaters. Doch bis er zehn Jahre alt war, hat ihn sein Opa nur »Boy« genannt, weil er den Namen nicht aussprechen konnte. Viel Stoff für neue Geschichten.
Judith Kessler
jüdisches berlin
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