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Neue Wege finden

01.September 2022 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage

Betrachtungen zu Rosch Haschana 5783 von Gemeinderabbiner Jonah Sievers

Wie schnell ist dieses Jahr trotz allem wieder vergangen. Obgleich die COVID-19-Pandemie etwas von ihrem Schrecken verloren hat, und wir beginnen, uns mit dieser Krankheit zu arrangieren, so ist doch mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine, sowie der daraus resultierenden Inflation und Gasknappheit, die Unsicherheit, die ja so prägend für die vergangenen Jahre war, nicht gewichen. Auch das kommende Jahr 5783 wird uns einiges abverlangen.

Häufig hören wir uns selbst sagen: »Wie doch die Zeit vergeht«. Die Zeit ist eine wundersame Sache. Sie erscheint wie ein alles mit sich reißender Strom zu sein, mit einer Quelle, aber ohne Mündung. So wie in diesen Zeiten der Pandemie und des Krieges, fühlen wir uns von diesem Strom noch mehr mitgerissen als sonst. Es ist unangenehm, da sich alles so anfühlt, als ob es sich unserer Kontrolle entzieht. Wir versuchen die Zeit zu domestizieren, so mit der Atomuhr. Aber es ist nur ein Versuch. Eines wissen wir. Ein Tag dauert 24 Stunden und ein Jahr 365 Tage. 

Aber wann beginnt ein neues Jahr? Die Antwort auf diesе Frage lautet: Es kann an jedem beliebigen Zeitpunkt beginnen! Unser neues Jahr beginnt immer im Herbst, in einer Zeit des abnehmenden Lichtes und spiegelt so das Gefühl der Unsicherheit, dass sich durch unsere Hohen Feiertage zieht, ganz gut wider.

Aber teilt unsere Tradition die Meinung, dass die Zeit ein kontinuierlicher Fluss ist? Die Antwort auf diese Frage ist zu verneinen. In unserem Gebetbuch heißt es: uwtuwo meschadesch bechol jom maasse wereschit, »und in seiner Güte erneuert [Gott] jeden Tag das Schöpfungswerk«. Wenn die Welt täglich erneuert wird, dann ist die Zeit eine Aneinanderreihung diskreter Momente. Ein neuer Tag kann die Fortsetzung des vorausgegangenen sein, muss es aber nicht! 

In der Regel läuft die Welt regelmäßig nach bestimmten Gesetzen ab. Anders wäre dies auch nicht zu ertragen. Es geht aber um das Potential der Erneuerung, die jedem Tag innewohnt. Rosch Haschana macht den gestrigen Tag zu etwas anderem als den heutigen. Es ist ein Aufruf dem Ewigen nachzueifern. So wie Gott täglich das Schöpfungswerk erneuert, so sind auch wir aufgerufen, jeden Tag zu erneuern. Es ist nicht nur eine Möglichkeit, sondern es ist unsere Pflicht. 

Dies wird auch in dem Wort schana angedeutet: eine Bedeutung der Wortwurzel ist »Veränderung«, eine andere »Wiederholung«. Wir verändern uns durch immer wiederkehrende Betrachtung unser selbst. Die vergangenen Jahre haben uns gezwungen, uns zu verändern. Wir mussten neue Wege finden und haben sie auch gefunden! Lassen Sie uns mit Optimismus im Wissen um die eigene Stärke in das neue Jahr gehen! 

Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien ein gebenschtes und vor allem gesundes neues Jahr 5783!

Ihr

Jonah Sievers



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