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Margot Friedländer wird 100 Jahre alt!
01.November 2021 | Beiträge – jüdisches berlin | Gemeinde, Menschen
2003 begegnete ich Margot Friedländer das erste Mal. Sie war auf Einladung des Regierenden Bürgermeisters im Rahmen des »Emigrantenprogramms« nach Berlin gekommen und wurde mit weiteren von den Nazis aus ihrer Heimatstadt vertriebenen Berlinerinnen und Berlinern im Roten Rathaus empfangen. Ich selbst war als Schulleiterin der Jüdischen Oberschule und Vertreterin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin anwesend. Als ich erfuhr, dass Margot Friedländer in der Zeit des Nationalsozialismus vorübergehend Schülerin der Mittelschule gewesen war, der Vorgängerin des heutigen Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn, lud ich sie ein, die Schule zu besuchen. Im Verlauf der Woche gab es eine weitere Begegnung und bei jedem unserer Treffen kamen wir uns näher und Margot Friedländer erzählte mir ihr Schicksal.
Margot Friedländer wird als Margot Bendheim am 5. November 1921 in Berlin geboren. Ihre Kindheit beschreibt sie als zunächst glücklich und unbeschwert. Nach der Scheidung ihrer Eltern versucht ihre Mutter mit Margot und ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Ralph aus Deutschland rauszukommen. Die Immigration in die USA wird jedoch von den amerikanischen Behörden 1938 verweigert.
Für den 20. Januar 1943 plant die Familie die Flucht aus Deutschland. Ralph wird von der Gestapo verhaftet und die Mutter entscheidet sich, ihren Sohn zu begleiten und stellt sich der Polizei. Margot hat an diesem Tag Nachtschicht in der Fabrik. Sie will zur Wohnung ihrer Mutter, sieht aber einen Fremden vor der Tür stehen und geht weiter hoch zu einer Nachbarin. Bei der hat die Mutter ihre Handtasche mit einem Notizbuch und einer Bernsteinkette hinterlassen und eine Nachricht an ihre Tochter: »Versuche Dein Leben zu machen!«
Margot geht in den Untergrund und findet immer wieder neue Verstecke. Sie färbt sich die Haare rot, lässt sich die Nase operieren und trägt eine Kette mit Kreuz. Dennoch wird sie 1944 gefasst und ins KZ Theresienstadt deportiert. Margot überlebt und heiratet noch in Theresienstadt Adolf Friedländer, den sie aus Berlin kennt. Gemeinsam wandern sie 1946 in die USA aus, nehmen die amerikanische Staatsangehörigkeit an und leben fortan in New York, fest verbunden durch das gemeinsame Schicksal, den Verlust ihrer jeweiligen von den Nazis ermordeten Familien.
Margot arbeitet in Textilgeschäften und Reisebüros, ihr Mann in leitender Position in einer großen jüdischen Kulturorganisation. Nach seinem Tod nimmt sie an einem Kurs für Kreatives Schreiben teil und hält ihre Erinnerungen in englischer Sprache fest. Über den Kurs lernt Margot einen jungen deutschen Filmemacher kennen, der, nachdem er ihre Geschichte gelesen hat, einen Dokumentarfilm über ihr Leben an Originalorten, also auch in Berlin, drehen möchte.
So kommt Margot Friedländer das erste Mal wieder nach Berlin. Viele Besuche sollen folgen. Ein weiterer Anlass ist die Premiere des Films »Don´t call it Heimweh«, der beim Jüdischen Filmfestival Berlin 2005 gezeigt wird. Der damalige Chef der Berliner Senatskanzlei motiviert Margot ihre Memoiren in deutscher Sprache zu Papier zu bringen. 2008 zur Leipziger Buchmesse erscheint das Buch »Versuche Dein Leben zu machen!«. Nun sieht sich Margot mit einer Flut von Einladungen zu Lesungen konfrontiert. Buchhandlungen und Schulen in ganz Deutschland wollen, dass sie ihr Buch präsentiert. Vor allem die Treffen jungen Menschen werden für Margot zur Mission. Mehrmals die Woche liest sie aus ihrem Buch und verdeutlicht ihnen anhand ihrer eigenen Lebensgeschichte, welche grauenhaften Folgen Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung, Hass und Antisemitismus nehmen können.
Nach vielen, oft mehrwöchigen, Aufenthalten in Berlin, zieht Margot 2010 nach Berlin und erhält die deutsche Staatsangehörigkeit zurück, die ihr während der Nazidiktatur aberkannt wurde.
2010 erscheint ein weiterer Dokumentarfilm »Späte Rückkehr«, 2015 ein Hörbuch zu ihrem Buch »Versuche Dein Leben zu machen« – 8 CDs, von Margot Friedländer selbst besprochen –, und 2021 zum bevorstehenden 100. Geburtstags ein Bildband »Margot Friedländer zum 100. Geburtstag. Ein Portrait« sowie ein Doppelinterview mit Margot Friedländer und der früheren Justizministerin und jetzigen Antisemitismusbeauftragten von NRW, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, in Buchform: »Ich tue es für Euch«, Untertitel: »Was wir von einer hundertjährigen Holocaustüberlebenden über Vergebung, Hoffnung und Toleranz lernen können«.
Viele Ehrungen werden ihr für ihr außerordentliches Engagement als Zeitzeugin zuteil, u.a. das Bundesverdienstkreuz am Bande, der Verdienstorden des Landes Berlin, der Obermayer Jewish History Award, die Ehrenbürgerwürde des Landes Berlin und die Jeanette-Wolff-Medaille der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. In einem Interview hat sie neulich gesagt, dass der glücklichste Moment in ihrem bald 100 Jahre langen Leben der Moment gewesen sei, als sie sich entschlossen habe, nach Deutschland zurückzukehren.
Wir gratulieren zum 100. Geburtstag und wünschen Mazal tov, bis 120!
Barbara Witting
jüdisches berlin
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