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Majn stetele Schlachtensee
04.Oktober 2009 | Beiträge – jüdisches berlin | Kultur
Ron Golz und Gabriel Heim haben die Geschichte der Berliner DP-Lager recherchiert. Nun ist Heims Film »Transit Berlin« im Jüdischen Museum und im Fernsehen zu sehen.
Berlin is stark zerstört, liegt nein ellen tief in’ erd
un ich, a jidl, steh oif un schraj: Am Jisroel chaj!
Aus einem in Schlachtensee entstandenen Lied
August 1948. Die letzten heimatlosen jüdischen Flüchtlinge werden in leeren Rosinenbombern aus dem eingeschlossenen Berlin in Richtung Westen ausgeflogen. Die Geschichte der Berliner DP-Camps, der Lager für »Displaced Persons«, ist beendet, ist Vergangenheit. Sie geraten in Vergessenheit.
60 Jahre später machen sich Ron Golz und Gabriel Heim unabhängig voneinander auf, diese Geschichte zu rekonstruieren. Die zwei »typischen« Berliner Juden (einer in England, der andere in der Schweiz geboren) wollten wissen, wie es denen ergangen ist, die 1945 oder 1946 ebenso entwurzelt nach Berlin gekommen waren, aus Russland oder Polen, geflohen vor dem Nachkriegsantisemitismus und vor der Trostlosigkeit ihrer Heimatstädte, in denen es keine Verwandten und keine Gemeinden mehr gab, auf dem Weg nach Palästina oder in die USA. Die meisten von ihnen waren zuvor im Ostsektor, im Vorderhaus der Synagoge Rykestraße untergebracht gewesen und zu Hunderten in den Westteil der Stadt geflohen, als es hieß, man wolle sie in der russischen Zone außerhalb Berlins ansiedeln. Täglich kamen neue Flüchtlinge an. Die Alliierten richteten drei DP-Camps ein – am Eichborndamm in Wittenau, in der Eisenacher Straße in Mariendorf-Tempelhof und in Schlachtensee an der Potsdamer Chaussee, wo zuvor ein Wehrmachtslager war.
Ron Golz, der in Schlachtensee wohnt, interessierte sich schon länger für das Thema, entdeckte dann in einem Londoner Archiv Aufnahmen aus dem Camp, das bei den Amerikanern Düppel Center hieß, und hat bereits letztes Jahr eine Ausstellung dazu organisiert. Und Gabriel Heim, der auf seinem Arbeitsweg jahrelang an der Stelle, wo sich das Lager befand, vorbeigefahren war, hatte nach seinem Abschied als rbb-Fernsehdirektor wieder Luft und Lust als Autor zu arbeiten. Zumal ihm aufgefallen war, dass plötzlich deutsche Kriegsopfer und Heimatvertriebene in den Medien Konjunktur hatten, reichlich Filme »Marke Gustloff« über die Sender gingen und er sich sagte: »Da waren doch auch noch andere auf der Flucht«. Hier mit einem Film einen Kontrapunkt zu setzen und die Erinnerung an die jüdischen Heimatlosen zu erhalten, war Motiv genug für beide, alte Zeitungen zu wälzen, Archive zu plündern, Nachlässe im Jüdischen Museum zu sichten, private Fotoalben und historische Dokumentarfilme zu studieren – in London, Tel Aviv und Washington. Und nach Zeitzeugen zu suchen, die über das Leben in den drei Camps, durch die 120 000 Menschen gegangen waren, berichten konnten. Lala Süsskind, die im Lager Eichborndamm und Zeit-Herausgeber Josef Joffe, der in Schlachtensee gelebt hatte, waren damals Kleinkinder und können sich nicht erinnern. Anders als Benjamin Gruszka, der noch genau weiß, wie er für die Fluchthilfeorganisation »Bricha« Juden auf Lastwagen, hinter Benzinfässern versteckt, aus Stettin nach Berlin schmuggelte. Auch Bella Katz kam so nach Berlin. Sie, die Partisanin in Litauen war, und Regina Karolinski, die als Zwangsarbeiterin überlebt hat, wurden am Eichborndamm, in dem Lager, das von der Jüdischen Gemeinde verwaltet wurde, untergebracht und blieben zwei Jahre. »Jeder hat eine Geschichte gehabt, vom Lager, von Russland, vom Wald«, sagt Regina Karolinski, aber mit der Zeit habe man angefangen normal zu leben. Ja, »wir haben hier eine Bleibe gefunden«, sagt Katz.
Auch Hella Stern, die als Kind im Tempelhofer Camp lebte, fühlte sich trotz der Stacheldrahtumzäunung (die als Schutz vor den Deutschen gedacht war) wohl, vor allem, weil alle Bewohner so nah miteinander waren, zusammen kochten und aßen – »Sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit und hofften auf eine gemeinsame Zukunft«.
Berlin, die Zwischenstation, die Transitstelle, wurde so für viele ein Heim auf Zeit, für Drei- bis Fünftausend sogar auf Dauer. Einige der damals blutjungen Männer leben bis jetzt in Berlin. Moniek Rozenberg, Joel Kuszmacher, Abraham Springer und andere Freunde von damals treffen sich noch heute fast täglich in einem Café am Kudamm. Sie erzählen, wie sie »draußen« in der zerstörten Stadt mit Russen oder Berlinern (von denen sie »Paketjuden« genannt wurden) handelten, mit Waren aller Art aus dem gut bestückten Flüchtlingslager, in dem es alles gab, genug Kleidung und gute Verpflegung, nur keine Sicherheit darüber, wann das Warten vorbei sein würde.
Man richtete sich also so gut ein, wie es ging. Im »Stetl Schlachtensee« wurde Jiddisch gesprochen, gekocht wie in Polen und gebetet wie dort. Überhaupt gab es nichts, was es nicht gab. Alle Ideologien und religiösen Strömungen waren vertreten. Es wurde geheiratet, es wurden Kinder geboren und beschnitten (zeitweise lebten bis zu 850 Kinder in Schlachtensee), und es gab Schulen, Sportvereine, Zeitungen, Orchester, ein Arbeitsamt, ein Kinderheim und das jiddische Theater »Baderech« das sogar gute Kritiken in der Berliner Presse bekam. »Mitn Wandersztok in Hand«, »Nathan, der Weiser« und »Die Nazis in der Hölle« – eine wahnwitzige Hitlerparodie auf Jiddisch – wurden gespielt, in der Aula einer Schule in Zehlendorf. Auch die »Haganah« war im Lager aktiv und warb Kämpfer an, die hier eine paramilitärische Ausbildung bekamen. Die jungen Zionisten waren auch die ersten, die sich auf den Weg nach Palästina machten, nachdem im November 1947 die Zweistaatenlösung in greifbare Nähe rückte. Als Ben Gurion im Mai 1948 den Staat Israel ausrief, hielt es auch sonst niemanden mehr in den Camps. Autokorsos fuhren hupend durch die Innenstadt und die ganze Nacht wurde getanzt.
Bei ihren Recherchen stießen Heim und Golz neben Bewohnern der Camps auch auf einen Militärrabbiner, der sich 1945 bewusst für Berlin gemeldet hatte, als er erfuhr, wie viele Juden hier auf ihre Weiterreise warteten. Dass Mayer Abramowitz noch lebt und dass sie ihn gefunden haben, ist Zufall und ausgesprochenes Glück. Denn der Rabbi hat nicht nur ein ausgezeichnetes Gedächtnis, sondern auch zwei Alben mit unschätzbaren Fotos aus dem Schlachtenseeer Alltag aufbewahrt, die er Gabriel Heim in Miami übergeben hat. Für Mayer Abramowitz ist das Camp Schlachtensee auch persönlich ein symbolträchtiger Ort. Hier hat er 1947 seine Frau Rachel kennengelernt und hier hat er sie geheiratet. Mit ihr macht sich Rabbi Abramowitz nun, mit 90 Jahren, auf Einladung des Senats noch einmal auf den Weg nach Berlin, um bei der Vorführung des Films im Jüdischen Museum dabei zu sein.
Judith Kessler
»Transit Berlin« von Gabriel Heim, 2009, 45 min.
_ 19. 10., 19.30 Uhr, Jüdisches Museum, Eintritt frei
_ 5. 11, 22.30 Uhr, rbb Fernsehen
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