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Lasst uns das Provisorium schön machen
01.Oktober 2022 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage
Gedanken zu Sukkot von Gemeinderabbinerin Gesa Ederberg
Dieses Jahr wird die Sukka in unserer Synagoge anders aussehen als in anderen Jahren. Nicht nur, weil die Künstlerin Shoshannah Brombacher uns ihre wunderschönen Sukkot-Bilder zur Verfügung stellen wird, sondern vor allem, weil unsere ukrainische Jugendgruppe das Schmücken übernimmt.
Sie sind mit ihren Müttern zusammen geflüchtet, im März angekommen, gehen längst in die Schule und ihr Deutsch wird immer besser. Sie haben unsere Synagoge verändert – ich sage die Seitenzahlen im Siddur und in der Tora nicht nur auf Deutsch und Englisch, sondern auch wieder auf Russisch an. Wir haben erlebt, was »Hachnasat Orchim« – Gastfreundschaft – bedeutet, als unsere Mitglieder ihre Gäste- oder Kinderzimmer zur Verfügung gestellt haben, um Familien aus der Ukraine aufzunehmen.
Wenn wir jetzt in der Sukka die »Uschpisin« begrüßen, die traditionellen Gäste aus der Tora, dann denken wir daran, wie schön und schwierig zugleich es ist, unsere Häuser zu öffnen für Menschen, die es wirklich nötig haben – nicht nur für sieben Tage oder sieben Wochen, sondern jetzt schon für sieben Monate.
In der Tora heißt es, wir sollen sieben Tage in Sukkot, Laubhütten, wohnen, damit wir erfahren, wie der Ewige die Kinder Israel in Hütten hat wohnen lassen, als Gott uns aus Ägypten führte. Meistens erzählen wir das als eine Geschichte der Befreiung, nicht als eine Geschichte der Flucht – und schnell kritisieren wir die Kinder Israels vielleicht dafür, dass sie sich in der Wüste nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurücksehnten. Aber jetzt erleben wir jeden Tag, wie unsere ukrainischen Gäste einerseits glücklich sind, dass sie die Flucht geschafft haben, aber sich gleichzeitig sorgen um Freunde, die zurückgeblieben sind, um Ehemänner und Väter. Wir verstehen die Sehnsucht der Kinder nach dem eigenen Spielzeug, dem eigenen Zimmer, oder der Jugendlichen nach der Lieblingsdisco. Und wir verstehen die Zerrissenheit: Baue ich mir hier ein neues Leben auf oder warte und hoffe ich eigentlich nur, dass ich bald wieder nach Hause zurück kann – aber was für ein Zuhause wird mich dann erwarten?
Unsere Sukkot sind zerbrechlich, sie sollen so gebaut sein, dass ein starker Wind sie wegbläst – nach oben offen, damit man die Sonne und die Sterne sehen kann – und eben auch, damit es gegebenenfalls reinregnet. Aber unsere Sukkot in Berlin sind oft an eine feste, stabile Wand angelehnt, und was wir in ihnen essen, wird in einer voll ausgestatteten Küche gekocht.…
Wochenlang im Keller zu leben, oder geflüchtet zu sein und nicht zu wissen, ob das eigene Haus noch steht, ist uns plötzlich wieder so viel näher gerückt.
Schon durch die Pandemie haben wir ganz neu erlebt, wie zerbrechlich das eigene Leben ist, und wie unsicher alles, was wir planen.
Können wir dieses Jahr unbeschwert in der Sukka sitzen? Oder sind die Corona-Zahlen wieder zu hoch? Welche Begegnungen werden wieder abgesagt, weil jemand krank geworden ist? Und wenn der Test dann doch positiv ist, bleibt es bei den Grippesymptomen oder kämpft man noch wochen- und monatelang mit den Covid Symptomen?
Nicht zu wissen, wie lange es noch dauert, ist eine der anstrengendsten Erfahrungen – egal, ob es Krieg, Pandemie, oder einfach nur eine lange Autofahrt ist, auf der die Kinder alle paar Minuten jammern »wie lange noch«? Es steckt eine tiefe Weisheit darin, dass wir die vorübergehende Unterkunft, die Zwischenstation auf der Wanderung, die die Sukka symbolisiert, schmücken, und mit Gästen füllen: Wer weiß, wie lange es diesmal dauert, bis wieder Sicherheit und Stabilität einzieht? Dann lasst uns das Provisorium doch wenigsten schön machen und mit Leben füllen!
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