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Kurze Charlottenburger Blüte
01.Juni 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Orte
Vor 100 Jahren wurden die Synagogen in der Fasanen- und in der Pestalozzistraße geweiht
Wer das Gemeindehaus in der Fasanenstraße betritt, durchschreitet noch immer das Hauptportal der Synagoge, die zuvor an dieser Stelle stand und mit ihren 2000 Plätzen einst eine der größten dieses Landes war. »Möge der Bau bis in die fernsten Zeiten seiner hohen Bestimmung dienen«, schloss der Text der Grundsteinurkunde für den neoromanisch-byzantinischen Prachtbau, der 1912 seiner Bestimmung übergeben worden war. Doch nur 26 Jahre später wurde er am 9. November 1938 niedergebrannt und stand noch weitere 19 Jahre als Ruine in der Nähe des Kurfürstendamms, imposante Zeugin des untergegangenen deutschen Judentums. 1958 wurde sie für den Neubau des Gemeindehauses abgerissen, das mit seinem Drei-Kuppel-Saal bis heute an die Architektur des Vorgängerbaus erinnert.
Bevor der Nazi-Mob am 9. November 1938 Bänke, Gebetsschals, Sidurim und andere Kultgegenstände aufeinandertürmte, mit Benzin übergoss und anzündete, hatte er die kostbare Inneneinrichtung der Synagoge zerschlagen und johlend auch die Registratur der berühmten Orgel herausgerissen und über die Brüstung ins Feuer geworfen. Die Feuerwehr durfte nicht eingreifen. »Hilflos standen die Löschmannschaften vor der brennenden Synagoge: SA-Männer hinderten sie am Auslegen der Schläuche und die Polizei drehte dem schamlosen Schauspiel den Rücken zu«, so ein Zeitzeugenbericht.
Unter den fassungslosen Augenzeugen waren in jener Nacht auch der damals 26-jährige Heinz Galinski, dessen Name später zum Synonym für den Wiederaufbau der Gemeinde werden sollte, und der Oberkantor der Synagoge, Magnus Davidsohn. Er stand vor dem Gotteshaus, bis das Feuer gegen fünf Uhr morgens nur noch unter der Asche glomm und die sensationsgierige Menge sich längst zurückgezogen hatte. Schließlich verneigt sich Davidsohn vor den rauchenden Trümmern, um das Kaddisch zu sagen. 26 Jahre zuvor hatte seine damals sechsjährige Tochter Ilse Kaiser Wilhelm II. einen Strauß Blumen überreicht, als er das Gotteshaus kurz nach dessen Einweihung am 26. August 1912 besuchte.
Die Einweihung der Synagoge war 1912 der sichtbarste Ausdruck dafür, dass sich das explosionsartige Wachstum Berlins seit der Reichsgründung 1871, sein Aufstieg zur Metropole, auch im Wachstum der jüdischen Bevölkerung widerspiegelte, was zu einer verstärkten Bautätigkeit auch der Gemeinde führte. In älteren Bezirken wie Kreuzberg und Tiergarten waren neue Synagogen entstanden, und eben in Charlottenburg, damals noch eine selbständige Stadt, in deren Umkreis Bauern, die um 1900 ihre Äcker als Bauland an Investoren verkauften, über Nacht zu Millionären wurden. Die prunkvollen Bauten, die in jenen Jahren rund um den Kurfürstendamm entstanden, waren auch für das liberale jüdische Großbürgertum attraktiv geworden, das bald ein eigenes repräsentatives Gotteshaus brauchte.
Und doch war die Synagoge in der Fasanenstraße nicht der erste Synagogenbau, der 1912 im Berliner Westen geweiht wurde. Schon am 19. Mai nämlich war in der Pestalozzistraße eine auf einem preiswerten Hinterhofgrundstück von einer Privatinvestorin errichtete Synagoge ihrer Bestimmung übergeben worden: ein unscheinbarer Backsteinbau, dem damals niemand vorausgesagt hätte, dass er einmal zum Symbol für das stolze Erbe des liberalen Berliner Judentums samt seiner bedeutenden Liturgien werden würde.
Denn vielleicht war es für die damals 42-jährige Betty Sophie Jacobsohn, geborene Isenheim, die nicht nur das Grundstück erworben, sondern auch eine Baufirma für den Synagogenbau gegründet hatte, sogar eine besondere Genugtuung, dass in der Pestalozzistraße nun schon deutlich früher als in der Fasanenenstraße Gottesdienste stattfinden konnten. Denn hier sollten jene Beter eine Heimat finden, die sich mit den Gottesdienstreformen des 19. Jahrhunderts, die zur Einführung von Orgel und gemischtem Chor geführt hatten, nicht abfinden und am alten Ritus festhalten wollten. Im kaiserlichen Berlin machen sie damals jedoch nur eine Minderheit von 20 Prozent aus. Eine Minderheit, deren Interessen im damaligen Gemeindevorstand besonders der Bankier Bruno Galewski vertrat, bald auch als Vorsitzender der Quellbad- und Kaschrutkommission. Galewski gehört auch 1912 schon zum Vorstand der Synagoge Pestalozzistraße, und vermutlich ist es auf seine Initiative zurückzuführen, dass die als Privatsynagoge gegründete Synagoge bereits 1915 auf Beschluss der Repräsentantenversammlung zu einer Gemeindesynagoge wurde. Zunächst zahlte die Gemeinde Pacht, 1930 ging der Komplex dann in ihren Besitz über. Gebetet wurde seit 1915, auch dies hatte die RV damals beschlossen, nach dem Ritus von Berlins traditionsreichster Synagoge, der »Alten Synagoge« in der Heidereuther Gasse, also ohne Orgel und nur mit mehrstimmigem Männerchor. Später betrieb Galewski den Bau einer Mikwe in der Bleibtreustraße 2, die 1926 nach modernstem Standard und mit modernen Korbmöbeln im Wartebereich öffnete. Endlich hatte Berlin eine zweite Mikwe auch im Westen und die Anhänger des »alten Ritus« mussten nicht mehr zur Mikwe in die Heidereuther Gasse reisen. Bruno Galewski stirbt 1927 und wird auf dem Friedhof Weißensee beigesetzt. Die Bauherrin Betty Sophie Jacobsohn wird 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie kurz darauf umkommt.
Im Januar 1911 veröffentlichte das »Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin« in seiner ersten Ausgabe diese Modellzeichnung der zu der Zeit im Bau befindlichen Synagoge in der Fasanenstraße
Am 9. November 1938 war auch in der Synagoge Pestalozzistraße Feuer gelegt worden, auf der Bima, auf der Frauenempore und unten im Mittelteil des Innenraums. Durch die gewaltige Hitzeentwicklung zerplatzen die herrlichen bleiverglasten Mosaikfenster mit den großen Davidsternen, so hält es der Brandbericht bei der Baupolizei fest. Um ein Übergreifen der Flammen auf die benachbarten Wohnhäuser zu verhindern, wird der Brand gelöscht, als er sein Zerstörungswerk im Innern beendet hat. Später ist es wohl dem Gemeindebaumeister Beer zu verdanken, dass die stark beschädigte Synagoge nicht (wie vom Bezirk gewollt) abgerissen wird, sondern als Zentralwäscherei für die verbliebenen sozialen Einrichtungen der Gemeinde hergerichtet und erhalten werden kann. 1942 wird die Gemeinde von den NS-Behörden schließlich zum Verkauf des Komplexes an die Stadt gezwungen und darf auch die Vorderhäuser ab Mitte 1943 nicht mehr nutzen. Bis zum Ende des Krieges wird das Bauwerk unter anderem als Pferdestall missbraucht. Und doch ist es im Mai 1945 eines der wenigen Gebäude der Gemeinde, die Zerstörung und Bombenangriffe überstanden haben, und so finden bereits wenige Wochen nach der Befreiung wieder Gottesdienste statt. Die Räume im Vorderhaus, insbesondere eine Küche, die 1930 als Armenküche eingerichtet worden war, machen die Pestalozzistraße zu einem Anlaufpunkt für die Überlebenden aus den Lagern oder dem Untergrund. So wird der Gebäudekomplex dann als »Bezirksstelle Charlottenburg« zu einer Keimzelle der wiedererstehenden Nachkriegsgemeinde. Lange befindet sich hier auch die zentrale Auswanderungsstelle der Gemeinde für alle Besatzungszonen.
Bis 1947 wird dann, unter anderem mit großer Unterstützung durch die sowjetische Militäradministration, die Synagoge wieder in Stand gesetzt und am 14. September 1947 zu Erew Rosch Haschana wiedergeweiht. So trage dieses Gebäude in der Pestalozzistraße beiden Strömungen Rechnung, brachte es das damalige Vorstandsmitglied Hans Münzer in seiner Rede auf den Punkt: als Synagoge denen, die in Deutschland bleiben wollten und als Auswanderungsstelle jenen, die das Land verlassen wollten.
Die Synagogenweihe findet 1947 nun mit Orgel und Chor statt. Geleitet vom Gesang des Auschwitz-Überlebendenden Kantor Estrongo Nachama, dessen Name mit der Nachkriegssynagoge bis heute untrennbar verbunden ist, die er mit seiner unverwechselbaren Stimme, seinem Charisma und seiner Hingabe zum weltberühmten Ort der Bewahrung der Traditionen des liberalen Berliner Judentums schlechthin gemacht hat. Möge dies auch den Respekt derer wecken, denen diese Traditionen weniger bedeuten als jenen, für die sie immer noch zentraler Teil ihrer Identität sind.
Esther Slevogt
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