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»Kosher – but very good«

01.August 2011 | Beiträge – jüdisches berlin | Kultur, Menschen

Irene Runge über ihr 4. jüdisches Lernfestival Limmud.de am Werbellinsee

Am Ende bleibt, dass es kein Limmud gibt, wenn enthusiastische Helferinnen und Helfer fehlen. Dem Ruf von Toby Axelrod und dem Limmud.de-Team folgten vom 2. bis 5. Juni fast 500 jüdische Frauen und Männer aller Alter, religiöser wie weltlicher Grundauffassungen und Lebensweisen. Sie bildeten eine intensive jüdische Gemeinschaft auf Zeit, das Ziel war »limmud« – lernen. Die Sonne, sprühende Lebensfreude und Begeisterungsfähigkeit vollendeten damit, was Ehrenamtliche seit einem Jahr fast rund um die Uhr vorbereitet hatten.

Nordöstlich von Berlin traf man sich erneut in der abgeschieden gelegenen, ehemaligen DDR-Pionierrepublik am Werbellinsee. Wie in aller Welt folgen auch hierzulande immer neue lehr- und lernwillige Mitglieder der verzweigten jüdischen Großfamilie dem Limmud-Aufruf zu unentwegtem Lernen bei überbordender Kommunikation. Auch diesmal ging es in Kurz-, Kino- und Fernsehfilmen, Vorträgen, Diskussionen, Lesungen, Podien und beim Essen vorrangig um das Jüdische »an sich« und für uns, um diesen mannigfachen Lebensentwurf und seine ethischen Maxime, Alltagserfahrungen, Visionen, Religion und Kritik, den Glauben, Israel und die Erkenntnis, dass jüdische Realität auch hierzulande aktiv gestaltet werden muss.

Mich zog die israelische Fernsehserie »Srugim« in ihren Bann. Hinreißend schön, klug und komödiantisch moderiert von Havva Deevon, der orthodoxen »Erfinderin« und Autorin der Soap-Opera. Sie erzählt vom instabilen Beziehungsgefälle, das typisch für 30-jährige orthodoxe, hochschulgebildete Jerusalemer Singles sein soll. In dieser neuen sozialen Mitte geht es heiß, witzig, romantisch und melancholisch zu, reguliert das religiöse Detail penibel den Alltag, wird das Heitere nach und nach zur menschlichen Tragödie, denn die verspätete Suche nach Liebe kollidiert mit dem religiösen Kodex und der biologischen Uhr. Fast zeitgleich sprach darüber auch die orthodoxe Rebbezin Dvora Nekrich, die in Berlin Wirtschaftsinformatik studiert, und offerierte Überlegungen zu Schiduchim, Heiratsvermittlungen, nebst Beratungsgesprächen (wer da nicht hinwollte, konnte ein jüdisches Speed Dating testen). Parallel erläuterte eine säkulare israelische Staranwältin ihre harte Berufserfahrung mit jüdischem Familienrecht und problematischen Ehescheidungen. Fazit: Auf Jüdisch ist »Gender« alles andere als langweilig.

Limmud.de Festival 2011 Fotos: Judith KesslerLimmud.de Festival 2011 Fotos: Judith KesslerLimmud.de Festival 2011 Fotos: Judith KesslerDie Band "The Shuk" beim Limmud.de Festival 2011 Fotos: Judith KesslerLimmud.de Festival 2011 Fotos: Judith KesslerLimmud.de Festival 2011 Fotos: Judith KesslerLimmud.de Festival 2011 Fotos: Judith KesslerDer italienische Demograph Sergio DellaPergola beim Limmud.de Festival 2011 Fotos: Judith Kessler

Ein anderer Schwerpunkt umfasste Tora und Talmud, Auslegungen und Deutungen von orthodox bis liberal, es ging um biblische Quellen, rabbinische Auslegungen, um Vorgeschichten, Mythen, Israel, Schoa und die jüdische Zukunft bis zum »Tikkun Olam«, wozu auch die kritisch diskutierte jüdische Entwicklungsarbeit in der Dritten Welt und das Neue Israel Forum mit Informationen über linke soziale Projekte in Israel gehörten.

Es gab viel zu sehen, zu lernen und zu reden, es wurde getanzt, gesungen, spaziert, getöpfert und geflirtet. Am Schabbat ließ sich beten oder jenseits des Eruw spazieren. Mich zog es zur traditionellen Orthodoxie. Die Betstuben von Orthodox über Reform, Masorti, Rekonstruktionalisten und egalitär Orthodoxen waren überfüllt; der junge Brandenburger Landesrabbiner Shaul Nekrich, einst Mathematiker, nahm die halachische Oberaufsicht wahr und bot Vorträge auf Russisch an. Dazu luden übrigens alle Rabbiner, Rabbinerinnen und Kantoren ein, und der liberale Rabbiner Tom Kucera trug sein Konzept von Seele und Atem anhand jüdischer Theologie vor, was die Streitlust anwesender Mediziner schürte. Auf der Wiese gab es täglich Atemgymnastik. Ich drängte mich am Schabbat in Eldad Becks Vortrag, der unter anderem eine mögliche Entspannung im Nahen Osten mit der Säkularisierung der arabischen Welt verband, was Zustimmung und Widerspruch provozierte.

Vom jüdischen Leben im heutigen Deutschland war nicht nur die Rede, sondern es wurde schmackhaft, spür- und hörbar, heiß umstritten unterschiedlich wahrgenommen. Die israelischen Köche und der Maschgiach der Lauder-Foundation sorgten für »kosher – but very good«, die Mitwirkenden der Küche gaben ihr Bestes. Saal und Terrasse und der Shuk waren soziale Treffs, es gab Bücher, Kultgegenstände, koschere Süßigkeiten und Kunstgewerbe zu kaufen.

Das vierte Limmud-Festival war großartig. Die zufällige Zusammensetzung der Teilnehmenden hatte offenbar das Gewicht jener vergrößert, die eine produktive Konstellation suchten. Das resultierte in guter Stimmung, führte zu kleinen und größeren Gesprächen am Rande, begünstigte auch den Tratsch und die Ernsthaftigkeit des Austauschs. Mir schien, dass in allen Sprachen respektvoll bis herzlich und offen miteinander umgegangen wurde, selbst mein schäbiges Russisch wurde gelobt. Alle wollten kommunizieren, was bei jüdischen Treffen nicht selbstverständlich ist. Überflüssige Redemarathons und durchziehende Ehrengäste fehlten, das trug zur Entspannung bei. Dafür gab es Themenschwerpunkte  unter dem Stichwort Tikkun Olam über ökologisches Bewusstsein, soziale Gerechtigkeit und Organspenden sowie Genderthemen und eine Blutspendeaktion als Zedaka-Aktion.

Natürlich braucht jüdisches Miteinander die Begeisterung zahlender Teilnehmer, vorausgesetzt sind immer Ideen, finanzielle Hilfe von außen, also Ehrenamt und Sponsoring. Auch Limmud Nr. 5 ist nur als gefördertes Ereignis denkbar. Bevor sich 2012 Limmudniks aus ganz Deutschland und aller Welt wieder auf die Suche nach aktuellen Themen machen, ist noch sehr viel zu leisten.