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Kein Sehnsuchtsort
02.Mai 2012 | Beiträge – jüdisches berlin | Ausstellung, Gesellschaft
Zur Ausstellung »Berlin Transit. Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren«
Nach dem Ersten Weltkrieg war Berlin Zufluchtsort und Zwischenstation für Zehntausende Kriegs-, Pogrom- und Revolutionsflüchtlinge aus Russland, Litauen und Galizien. Ein Sehnsuchtsort war Berlin nicht. Wer konnte, wanderte weiter – in die USA oder nach Palästina. Doch für ein gutes Jahrzehnt war die Stadt ein Zentrum jüdischer Migration und Kultur. Die Ausstellung »Berlin Transit« reflektiert mit überlieferten Objekten und bisher unbekanntem Material in sechs Themenblöcken diese Migrationsgeschichte und ihre Bedeutung für Berlin. Eine wichtige Arbeit, denn im kulturellen Gedächtnis der Stadt hat sie kaum Spuren hinterlassen. Stützen konnten sich die Ausstellungsmacher dabei auf kompetente Partner: das Forschungsprojekt »Charlottengrad und Scheunenviertel«, das eben diesen Komplex am Osteuropa-Institut der FU untersucht, und das Gestaltungsbüro »Chezweitz«, das jedem Raum ein Leitmotiv und eine spezifische Präsentation gegeben hat.
In der Weimarer Republik lebten eine halbe Million Emigranten. Bis zu 50 000 russisch-jüdische Flüchtlinge hielten sich in Berlin auf. Der Raum »Nach Berlin!« thematisiert die Pogrome während des Bürgerkriegs, die Hunderttausende Juden das Leben und eine halbe Million die Heimat kostete. Auf iPads können die Besucher Aufenthaltsanträge, Pässe, Empfehlungsschreiben und Bittgesuche betrachten und zu verstehen versuchen, wie kompliziert das Leben der Migranten war, die außer einer Duldung kaum Rechte hatten. Zu sehen sind auch historisches Filmmaterial und nach 88 Jahren erstmalig wieder die Pogrom-Zeichnungen des seit 1921 hier lebenden Kiewer Avantgardisten Issachar Ber Ryback. Sie waren 1923 im Jüdischen Logenhaus in der Kleiststraße ausgestellt worden; mit Rücksicht auf die Überlebenden hatten jüdische Zeitschriften damals den Abdruck der realistisch gezeichneten Gräuel aber abgelehnt.
Dem Areal zwischen Grenadier-, Mulack- und Hirtenstraße, wohin der erste Weg vieler armer Migranten führte, ist ein eigener Raum gewidmet. Gezeigt wird, wie dieses »Scheunenviertel« sukzessive einerseits verdammt, andererseits verklärt wurde. Polizeiaufnahmen von Razzien und Verhaftungen, die oft mit diffamierenden oder lächerlich machenden Bildunterschriften in Zeitungen abgedruckt wurden, suggerieren, dass hier nur Kriminelle, Prostituierte und Ostjuden ihr Unwesen trieben – »willkommene Projektionsfläche für Abstiegs- und Überfremdungsängste«, wie die Kuratoren schreiben. Die Genrebilder namhafter (auch jüdischer) Fotografen wie Abraham Pisarek haben dazu beigetragen, eine verzerrte Sicht auf das Quartier und das Klischee vom »ostjüdischen Stetl« inmitten der Großstadt zu zementieren. Die fotogenen Männer mit Pejes, Bart und Kaftan prägen bis heute dessen öffentliches Bild. In der Ausstellung werden diese Bildikonen analysiert und durch die Konfrontation mit Fotos etwa des Arbeiterfotografen Ernst Thormann (der die Gegend realistisch, als mit 1 477 Personen pro Hektar am dichtesten besiedeltes Armutsquartier zeigt) und mit privaten Familienbildern relativiert: Hier sind erste Schultage, eine Bar Mizwa oder ein Familienfest zu sehen – und das Bemühen der Migranten, sich äußerlich an die deutsche Umgebung anzupassen.
Manch einer mag sich noch an Josef Lautmann (1916–2005) erinnern, einen der letzten Zeugen des »echten« Scheunenviertels. Hier kann man ihn noch einmal in einem Radiointerview erleben. Jossel, der sich selbst »meine Wenigkeit« nannte, wurde in der Grenadierstraße geboren (aber selbst hier, im Epizentrum des Scheunenviertels, stammte nur ein Drittel der Bewohner aus Osteuropa), wo seine orthodoxen aus Polen stammenden Eltern, die nur »beten und arbetn« kannten, ein Milch-Käse-Butter-Geschäft hatten. Er erzählt, wie er in die Talmud-Tora-Schule ging und auf den Bolzplatz (am liebsten während des Gottesdienstes), berichtet von den »Damen des Gewerbes und den Alkoholikern«, aber eben auch vom guten Mittelstand aus dem Westen, der hierher zum Einkaufen kam, weil es die vielen koscheren Läden gab.
Denn auch in ihrer Geisteshaltung und Sozialstruktur entsprach die Zuwanderergruppe weder den stereotypen Genre-Postkarten, noch war sie homogen. Von Anarchisten bis Zaristen, von Atheisten bis Zionisten, von Arbeitern bis Zahnärzten war alles vertreten. Nur waren die meisten unauffällig oder wenig sichtbar, wie die wohlhabenderen Zuwanderer, die sich um den Kudamm herum niedergelassen hatten. Am Beispiel der weitverzweigten Familie des aus Baku stammenden Ölmagnaten Kahan, der im Russischen Reich ein Vermögen erworben hatte, wird dieses »Charlottengrad« thematisiert und ein Clan religiöser Zionisten gezeigt, der sich für die hebräische Sprache und die Besiedlung Palästinas einsetzte (gern auch mal für eine Goldene Hochzeit dorthin reiste), großzügig Zedaka übte und in seiner 9-Zimmer-Wohnung in der Schlüterstraße eine Privatsynagoge und einen großen Salon unterhielt, in dem viele namenlose und namhafte Migranten ein und aus gingen, wie feine Visiten- und Glückwunschkarten oder vielteilige Gedecke und Bestecke illustrieren.
Im Raum »Migrantenstimmen« kann man (neben Platten des jiddisch-hebräischen Labels »Semer«) – jeweils in der Originalsprache Russisch, Jiddisch, Hebräisch oder Deutsch – hören, was die Migranten dachten, über Berlin, den Zionismus, die von deutschen Juden ambivalent aber auch als authentisch empfundenen Ostjuden, über Arbeitslosigkeit, Inflation und potentielle Exilziele. Unbekannte kommen zu Wort und Prominente wie Simon Dubnow, Jeschaja Klinow (Berlin – »efscher die einzige jiddische Stadt in Welt«) oder Ilja Ehrenburg, der sich echauffiert: Es gibt Leute, die nach fünf Jahren noch kein Wort Deutsch können, außer »Bitte!«.
Nach dem Hörgenuss kommt der Raum »Babylon«, der sich als bibliophile Augenweide entpuppt: grafisch und typografisch auffällige, teils großformatige und edel gedruckte Bücher schweben in einem gläsernen Würfel – hier ein konstruktivistischer Buchtitel zu einer von Natan Altman herausgegebenen Grafiksammlung, da Illustrationen von El Lissitsky und Gedichte von Jehuda Halevi aus dem jiddisch-hebräischen Klal Verlag, und dort Grimmsche Märchen, von Chaim Nachman Bialik ins Hebräische übersetzt. Was für ein Reichtum! Das Berlin der 1920er Jahre war die Blütezeit der Migrantenverlage, war Geburtsort von über 80 Vereinen, mit denen gegenseitige Hilfe und eine Infrastruktur aufgebaut wurden, war Aufenthaltsort weitblickender Verleger wie Sinowie Grschebin und Iossif Gessen (»Rul«) und großartiger Künstler, die im letzten Raum unter anderem durch impressionistische Porträts von Leonid Pasternak (dem Vater von Boris Pasternak) und konstruktivistische Skulpturen von Naum Gabo beispielhaft vorgestellt werden. Zu sehen bis 15. Juli im Jüdischen Museum Berlin.
Judith Kessler
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