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Kein Handicap

01.März 2011 | Beiträge – jüdisches berlin | Gemeinde, Soziales

Ein Besuch im jüdischen Kunstatelier für Menschen mit Behinderung

Alles begann vor einigen Jahren im Gemeindehaus. Renate Wolff bot als Mitarbeiterin der Sozialabteilung der Gemeinde Menschen mit geistiger und psychischer Behinderung an, ein Mal in der Woche nachmittags gemeinsam zu spielen. Der Anfang war etwas schwierig und so lud sie auf Vorschlag der ZWST Michael Bensman ein, mit den Teilnehmern zu malen. Bensman, der 1995 aus Moskau nach Berlin gekommen war, ist nicht nur studierter Architekt, Künstler und Grafiker, er ist auch Heilpädagoge und hatte bereits Erfahrung mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Dank der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), die das Projekt nun in Kooperation mit der Jüdischen Gemeinde durchführt, konnte 2009 nun auch die »Aktion Mensch« als Förderer gewonnen werden.

Michael Bensman ist heute künstlerischer Projektleiter und wird tatkräftig von der pädagogischen Fachkraft Inessa Gorodetskaia dabei unterstützt, den Besuchern drei bis vier Tage pro Woche für mehrere Stunden eine sinnvolle Beschäftigung und ein jüdisches Zuhause zu bieten, das sich seit dem Beginn erheblich weiterentwickelt hat. Aus den Spielenachmittagen ist ein Kunstatelier mit Malwerkstatt und Kerzenzieherei geworden, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Teilnehmern eine feste Tagesstruktur zu bieten, ihre kreativen Potenziale zu wecken und damit ihr Selbstbewusstsein und ihre sozialen Kompetenzen zu stärken. Das Training von Ausdauer, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, abgestimmt mit den individuellen Fähigkeiten, kann langfristig sogar dazu beitragen, dass jemand eine Arbeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung aufnehmen kann. »Denn der bisherige Tagesablauf der Teilnehmer lässt eine geregelte Arbeit in einer Werkstatt nicht zu« erklärt Renate Wolff, »ermöglicht jedoch das Erlernen einer Tagesstruktur.« Um die Verständigung im alltäglichen Leben zu fördern, wird auch besonders darauf geachtet, dass die Teilnehmer Deutsch sprechen. Geduldig und liebevoll ermahnt Inessa Gorodetskaia immer wieder, nicht nur beim gemeinsamen Mittagessen: »Deutsch, bitte!«.

Fotos: Nadine BoseFotos: Nadine BoseFotos: Nadine BoseFotos: Nadine BoseFotos: Nadine Bose

Angedacht ist ebenfalls der Aufbau einer Holzwerkstatt. Das offene und herzliche Engagement des Projektleiters ist sehr wichtig für die Entwicklung und den Erfolg des Kunstateliers. Dass sich die Teilnehmer bei Michael und Inessa sehr wohl und gut aufgehoben fühlen, bestätigen zwei von ihnen freudig strahlend. Alexej (36 und seit einem Jahr dabei) malt besonders gern und außergewöhnlich gut. Er interessiert sich sehr für Geschichte, besonders für russische Militärgeschichte. Das Thema findet sich oft auch in seinen Zeichnungen wieder – vom Zar in Uniform und mit Helm über einen Soldaten bis hin zu seinem Urgroßvater, der Rabbiner war, zeigt er stolz seine vielfältigen Arbeiten. Julia, mit 19 Jahren derzeit die jüngste im Bunde, ist einmal wöchentlich im Atelier und besucht an den anderen Tagen eine Werkstatt, wo sie lernt, mit Stoffen umzugehen. Sie komme selber mit der Bahn den weiten Weg aus dem Ostteil der Stadt, wo sie wohnt, in die Joachimstaler Straße gefahren, erzählt sie gelassen. Das wäre »kein Problem«, sagt sie, während Sima (49) stolz Bilder ihrer Familie in Israel zeigt und dabei  fröhlich die fünf Sprachen, die sie spricht, miteinander vermischt.

Unter den Teilnehmern befinden sich viele verschiedene Persönlichkeiten – halachisch jüdisch und säkular bis konvertiert und orthodox; deutsch, russisch, italienisch. Robertos Eltern beispielsweise waren italienische Juden und konnten während des Nazi-Regimes nach Argentinien fliehen. Dort wurde er dann geboren, ging aber nach Italien und später zum Studium nach Deutschland. Heute kommt er regelmäßig ins Kunstatelier, befasst sich mit seinen jüdischen Wurzeln und lernt Hebräisch.  

Unabhängig von ethnischer, kultureller und sozialer Herkunft finden hier alle einen gemeinsamen Ort – keiner soll ausgegrenzt werden! Nicht nur die Teilnehmer, sondern auch ihre Familien, die von der zeitweisen Entlastung profitieren, schätzen den jüdischen Bezug und finden ihre Lieben hier sicher und gut aufgehoben.

Gemeinsame Ausflüge, die von der Sozialabteilung ein Mal im Monat organisiert werden – beispielsweise eine Lichterfahrt durch das abendliche Berlin oder ein Besuch im Botanischen Garten – sind zudem eine besondere Abwechslung. Auch die jüdischen Feiertage werden gemeinsam begangen und mit den selbst hergestellten  Judaica und Kerzen ausgestattet.

Insbesondere diese Kerzen (auch Hawdala-Kerzen oder Kerzen in Form eines Magen David) finden immer mehr Beachtung. Sie wurden bereits auf dem »Schuk Hacarmel« bei den Jüdischen Kulturtage verkauft und sind im Shop des Centrum Judaicum erhältlich. Zurzeit bemüht man sich weitere Verkaufsmöglichkeiten zu erschließen. Mittlerweile werden sogar Auftragsarbeiten in etwas höherer Stückzahl für Kerzen zu Festlichkeiten wie der  einen oder anderen Chuppa oder Bar Mizwa angenommen. Langfristig soll der Verkauf dazu beitragen, das Projekt zu unterstützen. Leider läuft die Förderung der »Aktion Mensch« im September 2011 aus. Überlegungen zur anschließenden Finanzierung sind bereits angelaufen.

Nadine Bose