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Kallmann & Coleman
01.März 2010 | Beiträge – jüdisches berlin | Menschen
Nach 60 Jahren hat sich ein Geschwisterpaar dank Internet wiedergefunden
»Hören Sie, ich habe meine Schwester wiedergefunden. Wir sehen uns zum ersten Mal wieder, nach 60 Jahren! Ist das nichts für die Zeitung?«…
Das Telefonat fand Ende Dezember statt. Bereits einen Monat später sitzen die »wiedervereinigten« Geschwister, die seit Jahrzehnten schlappe 6500 Kilometer voneinander entfernt leben, in der Redaktion und erzählen ihre Geschichte.
Henry (Heinz) Kallmann wurde 1926 in Breslau geboren und ging in Schöneberg zur Schule. Seine Mutter war 1935/36 nach Chile ausgewandert und sein Vater, ein Schuhwarenvertreter, hatte erneut geheiratet. Heinz, Stiefmutter Rosa war es auch, die durchsetzte, dass der Junge 1939 mit dem letzten Kindertransport nach England konnte. Der Vater war zu der Zeit schon dort. Man hatte Walter Kallmann nach der Pogromnacht vom November 1938 wie viele andere Juden im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert, ihm die Zähne ausgeschlagen und ihn nach sechs Wochen mit der Auflage entlassen, innerhalb von zwei Tagen Deutschland zu verlassen. So war er nach England gekommen.
Von nun an wollte er nicht mehr den deutschen Namen Kallmann tragen und änderte ihn in Coleman; auch der Sohn wollte nicht mehr Heinz heißen und nennt sich bis heute Henry.
Henry also durchlief mehrere Kinderheime, in Ipswich, Claydon und Oxford. »Keiner wollte mich«, sagt er. Die Verhältnisse waren schwierig, der Vater wohnte in London sehr beengt. Um etwas Geld zu verdienen, bastelte er Stoffpuppen, die mit Stroh gefüllt wurden. Dann kam seine zweite Frau nach, und 1944 wurde Evelyn geboren. Henry war da schon 18 Jahre alt und furchtbar stolz auf seine kleine Schwester. Bei einem seiner Besuche packte er sie in den Kinderwagen, fuhr mit ihr zu einem Fotoatelier und ließ sie fotografieren. Als er wieder nach Hause kam, war sein Vater sehr wütend, weil das Baby durchgeweichte Windeln hatte… Das Foto hütet der große Bruder bis heute.
Und doch verlor man sich aus den Augen. Vater Kallmann wanderte 1950 mit Frau und Tochter nach Kanada weiter. Henry blieb in England, lernte Einzelhandelskaufmann, heiratete, wurde Vater, ließ sich wieder scheiden. Bei einem Besuch in Deutschland lernte er dann seine Käthe kennen. Sie heirateten in London und beschlossen 1976, doch nach Deutschland zurückzukehren. »Das hat mir mein Vater nie verziehen«, ist sich Henry sicher. Für ihn ist dies auch der Grund, warum der den Kontakt zu Evelyn unterband. Durch die Zeit im KZ habe er die Deutschen gehasst. Tatsächlich haben weder Walter noch Rosa Kallmann Deutschland je wieder betreten (anders als Henrys leibliche Mutter, die mit ihrem neuen Mann, einem Anwalt, der sich mit Entschädigungsangelegenheiten befasste, 1952 nach Berlin zurückkam). Dass Henry auch hier lebte… »Nein, das konnte Vater mir nicht verzeihen«. Dabei hätte es ihm »sicher gefallen«, meint der heute 83-Jährige, »dass ich viele Jahre lang an Schulen Vorträge gehalten habe über den Holocaust« (und sicher auch, dass er dafür das Bundesverdienstkreuz bekommen hat).
Evelyn jedoch glaubt nicht, dass die Rückkehr nach Berlin der Grund für die Ablehnung des Vaters war. Der hätte nämlich schon zu der Zeit, als Henry noch in England war, den Kontakt nicht gewollt. »Henry hat mir geschrieben, aber Vater hat mir nicht erlaubt, ihm zu antworten.«
Er hat Evelyn auch verboten, Deutsch zu lernen, obwohl er mit seiner Frau nur Deutsch sprach. »Alles, was mit Deutschland zu tun hatte, war ein rotes Tuch für ihn«, sagt sie, und Henry sagt: »Ich habe volles Verständnis dafür«.
Evelyn war einmal in Deutschland, für drei Tage. 20 Jahre ist das her. Sie wusste nicht, in welcher Stadt Henry lebte und noch damals hatte ihr Vater, nun fast 90 Jahre alt, ihr untersagt, nach ihm zu suchen. Richtig verstehen kann auch sie es nicht. Und warum hat sie nicht trotzdem versucht, ihren Bruder zu finden? »Wir haben Vaters Entscheidungen nie infrage gestellt. Was er gesagt hat, wurde gemacht«. Und Henry ergänzt: »Mein Vater war jemand, der Anweisungen gegeben hat und die hatten befolgt zu werden. Er war sehr deutsch, trotz seiner Angst vor allem Deutschen«. Ja, und früher hätten Kinder eben auf die Eltern gehört, erklärt Evelyn, und schiebt sofort nach: »Meine Kinder hätten sich das allerdings nicht gefallen lassen«. Die haben auch nichts davon gewusst, dass ihre Mutter einen Bruder hat und waren über den plötzlichen Familienzuwachs total überrascht.
Und wie kam es nun konkret dazu? Evelyn Ginsberg, geborene Coleman, lebt in Toronto und hat dort eine Freundin, die einen Buchladen betreibt. Beide sind mit ganzem Herzen Kanadierinnen, und beide sind eingewandert. »Wir haben über meinen Background gesprochen«, erzählt Evelyn, »sie befasst sich mit solchen Sachen und sie hatte so eine Ahnung, dass mein Bruder in einem Kindertransport gewesen sein könnte. Sie recherchierte im Internet und fand auch gleich seinen Namen und alle möglichen Artikel. Vom Alter her passte es auch und so googelte sie weiter, schrieb Leute an und kam Henry immer näher – bis der sie im Laden anrief. Dann überraschte sie mich damit – sie hatte das nämlich alles ohne mein Wissen gemacht – und sagte: ›gerade habe ich mit deinem Bruder gesprochen!‹. Ohne das Internet hätte ich Henry nie wiedergefunden. Google sei Dank!« Und dann wäre alles ganz schnell gegangen. Sie hatte noch einen bereits geplanten Besuch bei ihrer Tochter in Mexiko gemacht und war anschließend sofort nach Berlin geflogen.
Und wie war das erste Treffen? Haben sie sich verwandt gefühlt? »Sofort!«, kommt Evelyns Antwort wie aus der Pistole geschossen, »er ist eine Kopie meines Vaters«. Inzwischen hatten beide ein paar Tage Zeit, sich über ihr Leben und ihren Vater auszutauschen und Henry stellt fest: »Wir hatten den selben Vater, aber für uns beide war er zwei verschiedene Personen.« Er erklärt: »Ich habe ihn erlebt bis ich zwölf war, vor dem KZ. Er war nett, lustig, hat Späße gemacht. Sie hat ihn nie lächeln gesehen, sie kennt ihn nur als strengen, verschlossenen Mann. Ich bin mit einem ganz anderen Vater groß geworden als meine Schwester. Das Lager hat ihn völlig verändert, nie wieder losgelassen, sein ganzes Leben nicht. Das sollen die Leute wissen, die einen Strich unter diese ganze Geschichte machen wollen!«
Für Henry und Evelyn ist es ein guter Abschluss ihrer Geschichte. Henrys Frau Käthe, genannt »Kitty«, sagt: »Ich freue mich so sehr, dass er seine Schwester gefunden hat. Er hat so oft von ihr geredet, immer wenn wir die Familienfotos angesehen haben.« Und Evelyn fragt: »Wirklich? Er hat immer von mir geredet?« und ist sichtlich gerührt. »Trotzdem bist du 60 Jahre zu spät gekommen«, fällt ihr Henry ins Wort: »Jetzt kann ich nicht mehr Fußball mit Dir spielen«.
Judith Kessler
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