Beitragssuche
Jom Kippur 5784
02.September 2023 | Beiträge – jüdisches berlin | Gemeinde, Feiertage
Gedanken zum „Tag der Versöhnung“ von Gemeinderabbiner Jonah Sievers
Jedes Jahr strömen um diese Zeit mehr Menschen als sonst in die Synagoge. Mehr als das ganze Jahr über – um dann auch noch 25 Stunden nichts zu essen und zu trinken. Für viele ist schon dies eine Herausforderung. Was aber tun wir in der Synagoge den ganzen Tag zu Jom Kippur? Wir beten. Ich kann mir vorstellen, dass dies für die meisten, die nur zu den Hohen Feiertagen in die Synagoge kommen, eine besondere Herausforderung darstellt. Bestimmt ist dies für viele schwierig. Wie sollen wir beten? Und an wen ist unser Gebet gerichtet? Die zweite Frage scheint ja schon fast ein Chillul HaSchem zu sein, eine Gotteslästerung. Auch wenn viele genau wissen, an wen sie ihr Gebet richten, so ist dies doch für viele nicht so klar, weil sie es einfach nicht gewohnt sind.
Gibt es aber eine Möglichkeit, das Gebet so zu verstehen, dass es allen möglich ist, aus diesem Tag das Optimum für sich herauszuholen?
Das hebräische Wort für Gebet tefila und das dazugehörige Verb l`hitpalel kommen von der gleichen Wurzel. Eine der Bedeutungen dieser Wurzel kann »richten« sein. Das Verb beten steht in einer Kategorie, die reflexiv ist. Also kann l`hitpalel nicht nur beten bedeuten, sondern auch sich selbst richten.
Tatsächlich ist doch die Funktion des Gebets genau diese: sich selbst zu richten. Gott braucht das Gebet nicht. Gott kennt das Innerste des Menschen, so wie es im Jigdal heißt. Das Gebet funktioniert häufig wie ein Spiegel, in den man schaut. So enthält die tägliche Amidah – und natürlich auch die Amidah für die Hohen Feiertage – Passagen über unsere Sünden und Umkehr. Wenn wir also diese Passagen lesen, fragen wir uns selbst, und nicht Gott, was wir falsch gemacht haben. Und: Sind wir wirklich umgekehrt? Gebet ist eine Selbstreflexion und gerade deshalb geeignet, zusammen mit Umkehr das böse Verhängnis abzuwenden. Dass das Gebet die Funktion des »sich selbst Richtens« hat, können wir noch aus einem anderen Zusammenhang ableiten.
Rabbiner Samson Rafael Hirsch hat den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Schofartönen sowie Umkehr, Gebet und Wohltätigkeit und den drei Themen Machujot, Sichronot und Schofarot hergestellt.
Der erste lange, durchgehende, ja durchdringende Ton des Schofars ruft uns vor Gott, damit wir uns unseren Taten stellen.
Dies entspricht dem Aufruf zur Umkehr und bezieht sich damit auf Malchujot, die Anerkennung von Gottes Herrschaft. Man kann Rabbiner Hirschs Analyse noch weiterführen. Dieser Aufruf zur Umkehr entspricht Rosch Haschana an sich. Der Tag also, an dem der Prozess der Umkehr beginnt. Die kommenden zehn Tage sowie Jom Kippur bis zum Neila-Gebet, entsprechen den gebrochenen Tönen des Schofars, die uns aufrufen, unser Leben und die Taten des vergangenen Jahres genau zu untersuchen, um etwaiges Missverhalten festzustellen. Dieses entspricht den Sichronot und dem Gebet.
Auch in dieser Analogie hat das Gebet die Funktion des »sich selbst Richtens«. Bis zum Neila-Gebet sind wir noch aufgerufen, unsere Taten des vergangenen Jahres auf den Prüfstand zu stellen, um umzukehren. Das Gebet spielt dabei eine wichtige Rolle, da es uns den Spiegel vorhält.
Um diese Funktion als Spiegel effektiv ausfüllen zu können, ist es meiner Meinung nach wichtig, dass die Gebete eine feste Form haben. Wäre es anders und würden wir nur freie Gebete haben, bei denen es nur an uns liegt, was oder was wir nicht beten wollten, so wäre doch die Versuchung groß, sich seiner Taten nicht mit der gebotenen Strenge zu stellen. Auch hier erfüllt das rituelle Gebet seine Aufgabe.
Ein weiterer Aspekt ist noch wichtig zu bemerken. Wenn wir beten, sprechen wir immer im Plural. Wir stellen uns in die Mitte des Volkes, werden ein Teil von ihm. Der Einzelne tritt dabei in den Hintergrund, das eigene Ego wird durch die Gemeinschaft ersetzt. Dies zeigt, dass unsere Taten nicht nur Auswirkungen auf uns selbst haben, sondern auch auf die Gemeinschaft, in der wir leben. Im Übrigen ist es ganz gut, wenn wir uns ab und zu nicht allzu wichtig nehmen. So eine Haltung wird uns auch helfen, unsere eigenen Fehler einzugestehen und sie dann abzustellen.
Umkehren kann man zu jeder Zeit, selbst eine Stunde vor seinem Tod. Es heißt aber, dass die Tore des Himmels heute besonders weit geöffnet sind. Nutzen wir diese Gelegenheit, um uns heute und morgen mit den Sünden, die wir Gott, uns selbst und unseren Mitmenschen angetan haben, auseinander zu setzen.
Chatima tova!
jüdisches berlin
2012_24 Alle Ausgaben
- Dezember 2024
- November 2024
- Oktober 2024
- September 2024
- Juni 2024
- Mai 2024
- April 2024
- März 2024
- Februar 2024
- Januar 2024
- Dezember 2023
- November 2023
- Oktober 2023
- September 2023
- Juni 2023
- Mai 2023
- April 2023
- März 2023
- Februar 2023
- Januar 2023
- Dezember 2022
- November 2022
- Oktober 2022
- September 2022
- Juni 2022
- Mai 2022
- April 2022
- März 2022
- Februar 2022
- Dezember 2021
- November 2021
- Oktober 2021
- September 2021
- Juni 2021
- Mai 2021
- April 2021
- Januar 2018
- März 2021
- Februar 2021
- Mai 2020
- Januar 2021
- Dezember 2020
- November 2020
- September 2020
- Oktober 2020
- Juni 2020
- April 2020
- März 2020
- Februar 2020
- Januar 2020
- September 2019
- November 2019
- Juni 2019
- Mai 2019
- April 2019
- März 2019
- Februar 2019
- Dezember 2018
- Januar 2019
- Mai 2015
- November 2018
- Oktober 2018
- September 2018
- Juni 2018
- Mai 2018
- April 2015
- März 2015
- März 2018
- Februar 2017
- Februar 2018
- fileadmin/redaktion/jb197_okt2017.pdf
- September 2017
- Juni 2017
- April 2017
- November 2017
- Januar 2017
- Dezember 2016
- November 2016
- Oktober 2016
- September 2016
- Juni 2016
- Mai 2016
- April 2016
- März 2016
- Februar 2016
- Januar 2016
- Dezember 2017
- Dezember 2015
- November 2015
- September 2015
- Juni 2015
- Oktober 2015
- Februar 2015
- Januar 2015
- Dezember 2014
- November 2014
- Januar 2022
- Oktober 2014
- September 2014
- Juni 2014
- Mai 2014
- März 2014
- Februar 2014
- Januar 2014
- Dezember 2013
- November 2013
- Oktober 2013
- Juni 2013
- Mai 2013
- April 2013
- März 2013
- Februar 2013
- Januar 2013
- Dezember 2012
- November 2012
- Oktober 2012
- September 2012
- Juni 2012
- Mai 2012
- April 2012
- März 2012
- Februar 2012
- Januar 2012